Tessiner Widerstandsbewegungen
Zwei Jahre lang, bis 1945, kämpften Partisanen rund um Domodossola gegen die Wehrmacht und ihre Verbündeten. Auch Schweizer schlossen sich diesem Kampf an. Als Helfer und als Widerstandskämpfer.
SWI swissinfo.ch publiziert regelmässig Artikel aus dem Blog des NationalmuseumsExterner Link, die historischen Themen gewidmet sind. Die Artikel sind immer in deutscher und meistens auch in französischer und englischer Sprache verfasst.
Als sich nach dem Waffenstillstand vom September 1943 Deutschlands Griff um Italien verstärkte, stieg der Widerstand gegen den Faschismus und es begannen sich schnell kleine Gruppen von Partisanen zu bilden, auch im Gebiet um Domodossola.
Angeführt wurden sie von ehemaligen Soldaten mit militärischer Erfahrung. Mitglieder waren auch Zivilisten und einige Schweizer!
Mehrere Männer, hauptsächlich aus dem Locarnese, unterstützten die Partisanen im Ossolagebiet aktiv oder kämpften sogar in ihren Reihen gegen die Deutschen und die italienischen Faschisten.
Beispielsweise Silvio Baccalà aus Brissago, der tagsüber als Gärtner im Gewerkschaftshotel Brenscino arbeitete und nachts die Partisanen entlang der Ghiridone-Pfade in Richtung Cannobinatal begleitete.
Oder Vincenzo Martinetti, der Vater der bekannten Tessiner Sängerin Nella Martinetti. Er kämpfte in den Reihen der Partisanengruppe Divisione Piave und wurde schnell zu einer der wichtigsten Personen dieser Truppe. Martinetti organisierte den Transport von Material, Waffen und Menschen über die Grenze.
Der Widerstand in der Region Ossola war vielfältig. Um ihn besser zu verstehen, lohnt sich eine nähere Betrachtung.
Viele kleine Gruppen
Die verschiedenen Gruppen waren meist dezentral und lose organisiert. Sie passten sich den verschiedenen Situationen und der rauen Landschaft immer wieder neu an.
Nur so konnten sie die sich ständig und schnell verändernden Herausforderungen meistern. Im Gegenzug verunmöglichte dies koordinierte und strategisch durchdachte Aktionen gegen die Besatzer.
Im Gebiet rund um Domodossola lebten zur Zeit des Zweiten Weltkriegs gut 80’000 Personen. Als die Partisanenrepublik OssolaExterner Link im Oktober 1944 zusammenbrach, flohen Zehntausende in die Schweiz, darunter auch zahlreiche Widerstandskämpfer.
Die Berechnung der tatsächlichen Partisanenkräfte im Ossolagebiet ist schwierig. Es war eine gängige Praxis der Widerstandsgruppierungen, aufgeblähte Grössen und Namen anzugeben (Bande, Brigate, Divisioni).
So konnten einige Dutzend Partisanen bereits eine BrigadeExterner Link und einige hundert Kämpfer schon einen DivisionExterner Link bilden. Zumindest sprachlich. Diese Übertreibungen sollten die gegnerischen Kräfte verwirren und abschrecken.
Ausserdem spekulierten die Partisanen darauf, grössere Nachschublieferungen der Alliierten zu erhalten. Diese hatten sie dringend nötig, denn ihre Ausrüstung war äusserst spärlich.
Fehlende Ausrüstung
Teilweise kämpften die Partisanen mit Messern oder mit blossen Händen. Nur etwa ein Drittel verfügte über Feuerwaffen. Diese konnten sie ausserdem oft nicht brauchen, da ihnen schlichtweg die Munition dazu fehlte.
Dies änderte sich in der rund 20 Monate dauernden Konfliktzeit zwischen 1943 und 1945 nicht grundlegend und stand im krassen Gegensatz zu den gut ausgerüsteten deutschen und faschistischen Truppen. Dieses Defizit konnte nur teilweise durch Waffenlieferungen aus der benachbarten Schweiz wettgemacht werden.
Auf den SchmugglerroutenExterner Link, über die in der Vergangenheit Lebensmittel und Tabak über die Grenze gebracht worden waren, wurden nun Waffen transportiert. Sie stammen von den Alliierten, teilweise auch aus dubiosen Quellen.
Meist brachten Schweizer das Material über die Grenzen, manchmal aber gingen die Partisanen auch in die Schweiz, um die Waffen «abzuholen». Besonders für die Divisione Piave, die von Vincenzo Martinetti logistisch organisiert wurde, war die Schweizer Grenze sehr durchlässig.
Ähnlich wie die Bewaffnung war auch die Kleidung der Partisanen von stetigem Mangel geprägt. Eine Standarduniform gab es nicht. Stattdessen wurde eine Vielzahl von Kleidungsstücken verwendet.
Die Zugehörigkeit zu einer Einheit war einzig an der Farbe des getragenen Halstuchs ersichtlich. Der Rest der Kleidung war improvisiert und den (geringen) Möglichkeiten des einzelnen Partisanen überlassen.
Einige blieben in Zivilkleidung, während andere deutsche und faschistische Uniformteile mit ziviler Kleidung mischten. Teilweise glichen die Männer eher einer Gruppe von Karnevalsteilnehmern als einer Formation von Widerstandskämpfern.
Kommunismus gegen Antikommunismus
Die Halstücher der Widerstandskämpfer hatten aber noch einen weiteren Zweck. Sie machten klar, zu welcher politischen GruppeExterner Link der Partisane gehörte.
Das war nicht ganz unerheblich, denn unter den verschiedenen Gruppierungen existierten teilweise krasse Gegensätze, die bisweilen zu unterlassener Hilfeleistung führten.
Zwischen 1943 und 1945 gab es in der Region Ossola fünf aktive Partisanengruppen. Das Spektrum reichte von Anhängern der Monarchie bis hin zu kommunistischen Kämpfern.
Extrem vereinfacht können die Widerstandskämpfer in zwei politische Hauptlager aufgeteilt werden: die kommunistischen Garibaldi-Einheiten und die restlichen, mehr oder weniger antikommunistischen Partisanenformationen.
Diese beiden Lager fanden praktisch nie einen gemeinsamen Nenner und legten sich immer wieder gegenseitig Steine in den Weg.
Für eine übergeordnete Strategie gegen die deutschen und faschistischen Besatzer fehlte der Wille zur Zusammenarbeit auf beiden Seiten.
Und selbst wenn man hier einen Kompromiss gefunden hätte, wäre es schwierig geworden. Es fehlten die technischen Möglichkeiten für einen Austausch von Informationen: Die Kommunikation zwischen den verschiedenen Partisanenkommandos war schlecht.
Nur wenige Formationen verfügten über Funkgeräte, und wenn, dann wurden sie fast nur stationär eingesetzt. Die meisten Informationen wurden von jungen Mädchen, so genannten Staffette-Kurierinnen, übermittelt.
Laut Schätzungen verfügte jede Widerstandseinheit über zwei bis drei solcher Kurierinnen. Die Kommunikation durch Botinnen war langsam und schränkte schnelle und gemeinsame Operationen stark ein.
Auch andere Frauen waren im Widerstand aktiv. Etwa Gisella Floreanini, Partisanin und Mitglied der Regierung der Republik Ossola, wo sie die erste Ministerin in der Geschichte Italiens wurde.
Oder die Krankenpflegerin Maria Peron, welche verletzte Widerstandskämpfer pflegte und wenn nötig operierte.
Auch in Locarno unterstützte eine Frau die Partisanen im Ossolagebiet: Gaby Antognini. Die Tessinerin versteckte beispielsweise Partisanen, welche aus Schweizer Internierungslagern geflohen waren und half ihnen über die Grenze nach Italien, um dort erneut gegen die deutschen und faschistischen Besatzer zu kämpfen.
Übrigens, der Grenzgänger und Tessiner Widerstandskämpfer Vincenzo Martinetti wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von den Partisanenorganisationen des Ossolagebiets für seine ausserordentlichen Dienste ausgezeichnet.
Und, er wurde von einem Schweizer MilitärgerichtExterner Link wegen Verletzung der Neutralität zu vier Monaten Gefängnis und einer Busse verurteilt. Die Haftstrafe wurde übrigens zur Bewährung ausgesetzt.
Der Historiker Raphael Rues ist spezialisiert auf das Tessin und die deutsch-faschistische Präsenz in Norditalien.
Der Originalartikel auf dem Blog des Schweizerischen NationalmuseumsExterner Link
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