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Théâtre à l’italienne: Ein Symbol des Reichtums

Das "Théâtre à l'italienne" in La Chaux-de-Fonds: Das "Scala" oder das "Odéon" im kleinen Massstab. Thomas Jantscher

Frankreich hat das "Théâtre de l'Odéon" in Paris und Italien das "Teatro della Scala" in Mailand. Auch die Schweiz hat ihre "Théâtre à l'italienne", prunkvolle Häuser im spätklassizistischen Stil.

Es sind noch zwei Bauten erhalten: in Bellinzona und in La Chaux-de-Fonds. In La Chaux-de-Fonds entstand das Theater sogar noch vor dem ersten Spital.

Folgt man der Avenue Léopold Robert, die kerzengerade von den Weiden und Wäldern der Freiberge ins Zentrum von La Chaux-de-Fonds führt, der höchsten Stadt Europas, gelangt die Besucherin direkt zum stattlichen Theater mit der roten Fassade.

Rechts und links Hochhäuser, Verkehr rauscht vorbei.

Im Theater wähnt man sich ins 19. Jahrhundert zurückversetzt.

Der Bau, 1837 eröffnet, gleicht einem kleinen Palast: rund geschwungene Balkone, Ornamente in Gold und Weiss, Deckenmalereien, edle Tapeten. Beleuchtet wird der Saal von einem riesigen Kronleuchter.

Bühne für die Zuschauer

Die Bühne mit dem königsroten Vorhang wird auf beiden Seiten von drei abgetrennten Logen flankiert. Diese einst äusserst begehrten Plätze sind heute jedoch für die Technik reserviert. «Von den Logen sieht man nicht auf die Bühne, sondern nur die Zuschauer gegenüber», sagt Michael Kinzer, kaufmännischer Direktor des Theaters.

Das Theater «à l’italienne» ist fast mehr für die Zuschauer als für die Schauspieler konzipiert. Sehen und Gesehenwerden war oft wichtiger als das Spektakel auf der Bühne. Das Theater war zu jener Zeit ein Ort, an dem das Bürgertum seinen Reichtum zelebrierte. Die Theater wurden hauptsächlich von Privaten gegründet.

Das frühe 19. Jahrhundert war durch die Industrialisierung und Urbanisierung sowie durch die Etablierung des Bürgertums gekennzeichnet. In der Schweiz entstand der Freisinn, der die Unterwerfung der Landbevölkerung unter das Patriziat bekämpfte und eine republikanische Ordnung einführte.

Wegbereiter für Industriegesellschaft und Republik

Das Casino, wie das Theater in La Chaux-de-Fonds in seinen Anfängen genannt wurde, stand in erster Linie für den sozialen Einfluss und die wirtschaftliche Macht der Uhrmacherelite sowie für eine liberale Stadt, in der Unterhaltung, Kunst und Meinungsfreiheit gross geschrieben wurden.

Die Journalistin Yvonne Tissot beschreibt im Buch «Le Théâtre de La Chaux-de-Fonds 1837-1856. Une bonbonnière révolutionnaire» die Hintergründe, die zur Entstehung des Theaters führten. Die Initiative zum Bau sei von republikanisch gesinnten Bürgern ausgegangen. Damals erlebte die aufstrebende Uhrmachergemeinde eine wirtschaftliche Blüte.

Das Theater sei als Symbol für eine offene Bürgerschaft von Bedeutung gewesen und habe den Mentalitätswandel der Bevölkerung und die Entwicklung einer Industriegesellschaft unterstützt, die den Werten des Ancien Régime den Rücken kehrte, schreibt Tissot in ihrem Buch.

1848 fand in Frankreich die Februarrevolution statt, die zur Zweiten französischen Republik führte. Kurz darauf versammelten sich in La Chaux-de-Fonds die damals Radikalen und brachen nach Neuenburg auf, um gegen den König und gegen das Ancien Régime und für eine moderne Republik zu demonstrieren. Mit Erfolg. Der Kanton Neuenburg, der damals noch Gebiet des Preussenkönigs war, wurde zu «Canton et République» ausgerufen.

Zuerst ein Theater, dann ein Spital

Von 1800 bis 1837 wuchs die Bevölkerung der künftigen Uhrenmetropole von 5000 auf 8000 Einwohner. Das Casino sollte als Theater nicht nur den Unterhaltungsbedürfnissen der wachsenden Bevölkerung entsprechen, sondern auch als gesellschaftlicher Treffpunkt dienen.

Anfang des 19. Jahrhunderts wurden in der Schweiz die ersten Theater gebaut. In La Chaux-de-Fonds entstand das Casino sogar noch vor dem ersten Spital.

Mehrzweckhalle statt Theater

Dass die Rarität aus dem 19. Jahrhundert heute noch steht, ist alles andere als selbstverständlich. Nach dem Ersten Weltkrieg wäre das Theater beinahe den Baggerschaufeln zum Opfer gefallen: Die Stadtväter wollten es durch eine Mehrzweckhalle ersetzen.

Das Vorhaben wurde fallengelassen. Stattdessen wurde 1955 neben dem Theatergebäude ein Konzertsaal errichtet, der für seine einzigartige Akustik bekannt ist. Heute pilgern Musiker aus der ganzen Welt nach La Chaux-de-Fonds, um in diesem Saal ihre CDs aufzunehmen.

Das Theater wechselte im Laufe der Geschichte mehrmals das Aussehen. 1912 gestaltete der damals 25-jährige Le Corbusier, der in La Chaux-de-Fonds geboren ist, das Foyer mit lachsfarbenen und hellgrünen Wänden, hellen Säulen und goldenen Ornamenten. Dieses Werk hebt sich von den Bauten ab, die Corbusier als Architekten berühmt machten.

«Wie Demokratie ohne Auseinandersetzung»

1994 wurde das italienische Logentheater unter den Schutz der Eidgenossenschaft gestellt; das Theater wurde für 18 Mio. Franken renoviert. Diese Gelder kamen vom Bund, Kanton, Gemeinde und Privaten.

Das Theater wurde betrieblich mit dem benachbarten Konzertsaal zusammen geschlossen. Zudem erhielt es sein 1912 geschlossenes Restaurant zurück.

Das Fotobuch «Actes. Renaissance d’un Théâtre à l’italienne» gibt eine Ahnung von der aufwändigen zweijährigen Renovationsarbeit. Die Publikation zeigt skurrile Szenerien während des Umbaus wie etwa jene des ausgehöhlten Theaters mit dem Bagger auf der Bühne.

Das Theater sei in seinen Anfängen vor allem ein Treffpunkt der Bourgeoisie gewesen, sagt Kinzer. Das habe sich inzwischen geändert. «Es ist uns wichtig, dass wir als Stadttheater ein vielfältiges Publikum anziehen.»

«Es ist ein Ort, an dem man sich trifft, debattiert, vergnügt. Meiner Ansicht nach ist eine Stadt ohne Theater wie eine Demokratie ohne Auseinandersetzung», sagte Charles Augsburger, der ehemalige Stadtpräsident von La Chaux-de-Fonds, über das Theater, das 2003 mit dem verheissungsvollen Namen «L’heure bleue» wieder eröffnet wurde.

swissinfo, Corinne Buchser

Ausser in La Chaux-de-Fonds gibt es noch in Bellinzona ein italienisches Logentheater.

Beide Bauten weisen die für diese Häuser typischen Merkmale auf: Sie haben die Form eines Hufeisens und weisen Balkone auf. Der Saal und die Bühne dominieren, während das Foyer einen begrenzten Raum einnimmt.

Diese Architektur war seit der italienischen Renaissance perfektioniert worden. Im 18. Jahrhundert wurde Italiens Theaterarchitektur wegweisend für ganz Europa, ihrer Ästhetik wie auch ihrer Akustik wegen.

Der Innenraum war speziell für die Bedürfnisse des Hofes konzipiert worden. In Frankreich, wo wie in Italien die Verbindung von Theater und Hof lange gewahrt blieb, lässt sich die italienische Beeinflussung besonders deutlich nachweisen.

Frankreich und Italien besitzen am meisten von diesen Theatern.

Das «Teatro Sociale» in Bellinzona, auch kleine Scala genannt, wurde 1846-1847 nach den Plänen des Mailänder Architekten Giacomo Moraglia (1792-1860) gebaut. Er war ein bekannter Exponent des späten lombardischen Klassizismus.

Auch für das Theater in Bellinzona bestanden, wie in La Chaux-de-Fonds, in den 60er-Jahren Pläne für eine Mehrzweckhalle. Es wurde nicht abgerissen, aber 1967 geschlossen.

Nicht nur die Witterung setzten ihm hart zu, sondern auch Plünderungen. Mit den eingestürzten Decken und dem faulenden Gebälk verkam es zu einer Ruine.

Anfang der 90er-Jahre wurde das Theater unter Schutz des Bundes gestellt; zwischen 1993 und 1997 wurde es renoviert.

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