Ursina Lardi: «Ich will nicht alles über meine Charaktere wissen»
Ursina Lardi ist eine der besten und vielfältigsten Schweizer Schauspielerinnen. Neben Kino- und Fernsehproduktionen steht sie auch auf der Theaterbühne. Die Solothurner Filmtage würdigten die in Berlin lebende Bündnerin mit einer Retrospektive. Sie suche Herausforderungen, die Langeweile sei ihr grösster Feind, sagt Lardi im Gespräch mit swissinfo.ch.
«Eine Pause? Nein Danke! Der nächste bitte.» Hier, an den Solothurner Filmtagen, geht es Schlag auf Schlag. Ursina LardiExterner Link ist der Star des Moments. Ein Interview jagt das nächste. Dabei wechselt die 45-Jährige mit einer beeindruckenden Leichtigkeit von einer Sprache in die andere. Deutsch natürlich, aber auch Italienisch, Romanisch und Französisch. Sie erscheint wie die personifizierte Schweizer Kultur- und Sprachenvielfalt.
Ursina Lardi, Schauspielerin und Mutter, ist immer auf Trab, oder fast immer. Sie steht auf vielen Theaterbühnen, sie reist von einem Filmset zum nächsten. Wenn sie kann, entspannt sie sich beim Klavierspiel. «Ich bin kein Multitasking-Mensch; wenn ich etwas mache, dann bin ich in der Lage, mich wirklich voll darauf zu konzentrieren», sagt sie.
Vielleicht erklärt dies ihre starke Präsenz, sowohl im realen Leben, wie auch auf Bühnen und in Filmen. Die Solothurner Filmtage zeigten sich von den Stärken der Schweizer Schauspielerin jedenfalls beeindruckt und haben ihr eine Retrospektive gewidmet.
Geboren wurde Ursina Lardi 1970 in Samedan, einer romanischsprachigen Gemeinde des Kantons Graubünden. Sie wuchs aber in Poschiavo, einer italienischsprachigen Südbündner Gemeinde im Puschlav auf.
Schon als Kind machte sie Schauspielerei zu ihrem Hobby, als Spiel. Sie schrieb kurze Stücke, die sie selbst spielte. Oder sie leitete Freunde an. «Ich hatte dabei viel Spass, aber ich dachte überhaupt nicht daran, Schauspielerin zu werden. Ich wusste damals nicht einmal, dass es einen solchen Beruf gibt.»
Am Lehrerseminar in Chur wird sie Mitglied einer Theatergruppe mit anderen Gymnasiasten. Und dort entdeckt sie ihre wahre Liebe für die Bühne. Auf Anraten des Theaterdirektors von Chur geht sie 1992 – im Alter von 22 Jahren – nach Berlin, wo sie bis 1996 an der Hochschule für Schauspielkunst «Ernst Busch»Externer Link Schauspiel studiert.
Ihre Mutter, eine Musikerin, und ihr Vater, ein Anwalt und ehemaliger Staatsrat, hatten keine Einwände. «Vielleicht entsprach das nicht ihrem Traum von meiner Berufskarriere, doch die Tatsache, dass ich ein Diplom als Primarschullehrerin in der Tasche hatte, beruhigte sie», meint Lardi. So begann ihre schauspielerische Laufbahn in der deutschen Hauptstadt, wo sie seither wohnt. Nach Engagements an zahlreichen grossen Häusern in Deutschland ist sie seit der Spielzeit 2012/13 festes Ensemblemitglied der Schaubühne in Berlin.
Es ist im Übrigen die Theaterbühne, auf der Ursina Lardi begonnen und ihr Talent unter Beweis gestellt hat. Auf der Bühne könne sie eine 14-Jährige oder auch König Ödipus spielen. In den unterschiedlichen Rollen fand sie ihre «Freiheit». Solche Herausforderungen halfen ihr zu reifen, erzählt sie lächelnd: «Der Mut ist jedenfalls stärker als die Angst.»
In den letzten beiden Jahren hat sie unter anderem in Bühneninszenierungen wie «Die Ehe der Maria Braun»Externer Link (nach der Vorlage des bekannten Films von Rainer Werner Fassbinder) und «Die kleinen Füchse»Externer Link mitgespielt. In beiden Werken führte Thomas Ostermeier Regie, ihr ehemaliger Schulfreund und amtierender Direktor der Schaubühne.
In diesen Tagen debütiert sie in der Uraufführung des Stücks «Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs»Externer Link des Schweizer Autos und Regisseurs Milo Rau an der Schaubühne Berlin. Es handelt sich um eine Auseinandersetzung mit dem Flüchtlingsdrama. Lardi spielt die Rolle einer NGO-Mitarbeiterin. Rau hat sie für diese Rolle ausgesucht.
Ursina Lardi stellt hohe Ansprüche an sich selbst und ist neugierig auf Neues. Vom Theater fand sie ihren Weg zum Film. Ihre erste Rolle spielte sie 2001 in «Mein langsames Leben»Externer Link von Angela Schanelec. Der grosse Durchbruch auf der Leinwand gelang ihr aber erst im Jahr 2009 im Film «Das weisse Band»Externer Link von Michael Haneke, der in Cannes die Goldene Palme gewann. Für Lardi handelte es sich um eine sehr «anregende Erfahrung», mit der es ihr gelang, die eigenen Ängste in Bezug auf das Filmschaffen zu überwinden.
Gewisse Hindernisse und Herausforderungen sind der Schauspielerin sehr wichtig. Sonst langweilt sie sich. «Die Langeweile ist mein grösster Feind», hält sie fest. Egal ob Theater oder Film: In ihren Rollen sucht sie das Neue, das Unerwartete, das Unbekannte und Unverständliche. «Ich möchte gar nicht alles wissen über meine Charaktere, sondern Raum lassen für die Improvisation.»
Ursina Lardi ist es gewohnt, sich auf unbekanntem und unsicherem Terrain zu bewegen. Häufig hat sie mit Regisseuren gearbeitet, die am Anfang ihrer Karriere standen. Beispielsweise mit Petra Volpe. In deren Film «Traumland»Externer Link spielt sie eine betrogene Frau. Und genau mit dieser Rolle gewann sie 2014 den Schweizer Filmpreis.
Lardi mag alle Charaktere, die sie bis anhin interpretiert hat. Im Film «Unter der Haut»Externer Link (Claudia Lorenz, 2015) spielte sie aber wohl ihre grösste Rolle, einmal mehr eine unglückliche Frau, die betrogen wird (ihr Ehemann hat eine Beziehung mit einem anderen Mann). Sie spielt diese Frau in alle ihren Facetten, ohne sich je zu wiederholen. «Eine authentische Darstellung», wie Seraina Rohrer, Direktorin der Solothurner Filmtage, meint.
Die Sexualität steht in diversen ihrer Filme im Mittelpunkt, zuletzt auch in «Sag mir nichts»Externer Link (2016) von Andreas Kleinert. In diesem Film gibt es einige explizite Szenen, die der Bündner Schauspielerin aber nicht peinlich waren. Ganz im Gegenteil: Sie konnte damit zeigen, wenn es überhaupt nötig war, dass auch Frauen ihres Alters ein sexuelles und sinnliches Leben haben. «Warum sollten Frauencharaktere über 40 Jahren schüchtern sein?», fragt sie.
Ursina Lardi ist eine verführerische und hellwache Person. Sie setzt sich keine Grenzen und hat keine Angst vor dem Altern. «Ich habe entschieden, gar nicht daran zu denken… Meine Arbeit wird bisher von Tag zu Tag interessanter. Und ich hoffe, dass es so bleibt.»
Es ist 15 Uhr. Die Zeit für unser Gespräch ist abgelaufen. Ein Schluck Wasser, einmal durch die Haare gekämmt. Und weiter geht es. Der Nächste, bitte!
Filmografie Ursina Lardi (Auswahl)
• 2015 «Sag mir nichts» (Regie: Andreas Kleinert)
• 2014 «Unter der Haut» (Regie: Claudia Lorenz)
• 2014 «Akte Grüninger» (Regie: Alain Gsponer)
• 2013 «Traumland» (Regie: Petra Volpe)
• 2013 «Die Frau von früher» (Regie: Andreas Kleinert)
• 2012 «Lore» (Regie: Cate Shortland)
• 2011 «Der Verdingbub» (Regie: Markus Imboden)
• 2010 «Songs Of Love And Hate» (Regie: Katalin Gödrös)
• 2009 «Das weisse Band – Eine deutsche Kindergeschichte» (Regie: Michael Haneke)
• 2001 «Mein langsames Leben» (Regie: Angela Schanelec)
(Übertragen aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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