Milo Rau schreckt auf der Bühne vor nichts zurück
Er ist kein Kriegsreporter. Dennoch zögert er nicht, in Krisenregionen zu reisen. In seinem jüngsten Stück "Empire" beschäftigt sich der Berner Regisseur mit dem Krieg und stellt die Frage, ob das Exil ein unausweichliches Schicksal sei.
International Institute of Political MurderExterner Link (internationales Institut für politischen Mord): Mit einem solchen Namen, der wie eine Abteilung des US-Geheimdienstes CIA tönt, kann man nur auffallen. Die 2007 von Regisseur Milo Rau gegründete Theater- und Filmproduktionsgesellschaft heisst so. «Zu Beginn wollte ich eigentlich zusammen mit Wissenschaftlern ein Institut gründen, das Attentate untersucht. Das habe ich auch gemacht, allerdings ohne Wissenschaftler», witzelt der Berner.
Aufgeführt auf der Bühne, sorgen die «Verbrechen» des 39-Jährigen für viel Lärm. Im Handumdrehen stellt Rau ein Gericht, die Angeklagten und deren Geschworenen auf die Bühne. Sein Theaterstück «Die Moskauer Prozesse» erzählt von der Urteilsfindung gegen die drei Musikerinnen der russischen Punk-Band «Pussy Riot». Das Stück sorgte für viel Aufsehen, nachdem die Polizei im Frühling 2013 eine Aufführung in Moskau abbrach.
Auf der Suche nach der Wahrheit
Rau liess sich allerdings durch diesen Vorfall nicht einschüchtern. Auf der Bühne schreckt er vor nichts zurück. Die historischen Ereignisse, die er leidenschaftlich nach der Wahrheit suchend hinterfragt, haben immer etwas Diabolisches.
So setzt er in «Die letzten Tage der Ceausescus» dem ehemaligen rumänischen Diktator hart zu. Und in «Hate Radio» – ein teuflisches und rassistisches Radio, das in den 1990er Jahren in Kigali tatsächlich sendete und den Groll zwischen Tutsis und Hutu schürte – beutelt er die Völkermörder Ruandas.
Rau war mehrere Male in Afrika. Er recherchierte vor Ort und führte seine Theaterstücke auf. Für das Stück «Das Kongo Tribunal» fanden sich 2015 in Bukavu 60 Zeugen und Experten eines Bürgerkriegs ein, der den Osten der Demokratischen Republik Kongo seit 20 Jahren zur Hölle macht.
Auch im neusten Stück des Berners brennt das Fegefeuer. «Empire» bildet den Abschluss einer Europa-Trilogie, die 2014 mit «The Civil Wars» ihren Anfang nahm, gefolgt von «The Dark Ages» in 2015. Gemeinsamer Nenner der drei Stücke bilden die Schauspieler, die alle aus ihrem eigenen Leben erzählen.
In «The Civil Wars» sucht ein Vater nach seinem Sohn, ein junger Belgier, der das Land in Richtung Syrien verlassen hat, um dort in den Dschihad zu ziehen. In «The Dark Ages» thematisiert Regisseur Rau die Probleme des Zerfalls von Ex-Jugoslawien. «Im letzten Teil der Trilogie stelle ich die Frage, ob das Exil ein tragisches Schicksal ist, eine Fatalität, der man nicht entkommen kann.» Die Antwort von Rau bleibt vorsichtig: «Der Mensch kann lernen, vorwärtskommen und sogar aus den dramatischsten Situationen einen Nutzen ziehen. Als Künstler muss ich all das aufzeigen.»
Syrien, Griechenland, Rumänien
Diesen Sommer reiste Rau in die Stadt Erbil im autonomen Kurdengebiet im Irak. Er besuchte zudem die syrische Stadt Kamischli an der türkischen Grenze, unweit des von der Terrororganisation IS besetzten Gebiets. Begleitet hat ihn einer seiner Schauspieler: Ramo Ali, ein kurdischer Syrer, der 2011 aus seinem Heimatland geflohen war.
Seit seiner Flucht lebt der Syrer in Deutschland, wo er auf verschiedenen Bühnen auftritt. Indem Rau ihn begleitete, konnte er die Realität in Syrien mit eigenen Augen sehen. Ein Land, über das wenig bekannt sei, so der Regisseur. Das gelte auch für unsere Journalisten, die noch nie dort gewesen seien. Rau interessiert sich nicht für die Mittelmeer-Überquerung der Migranten, über welche «die Presse auf pathetische Weise berichtet». Vielmehr wolle er wissen, welche Überlegungen sich ein Vertriebener mache, der im gleichen Atemzug seine Herkunft lieben und ablehnen könne.
Diese Dialektik ist das Herzstück von «Empire». Vier Schauspieler erzählen in dem Stück ihr richtiges Leben. Es sind das der bereits erwähnte Syrer Ali, Rami Khalaf, auch er ein Syrer, der Grieche Akillas Karazissis, der in den 1970er Jahre vor der Diktatur floh, und Maia Morgenstern, eine rumänische Jüdin, deren Familie aus Weissrussland vertrieben wurde – ein Mosaik aus Existenzen und Erinnerungen.
Wie Frisch und Dürrenmatt
«Ich möchte aufzeigen, wie dieses ‹Empire› – Europa – die Menschen im Exil mit seiner wirtschaftlichen und sozialen Realität konfrontiert», sagt der Regisseur. Sein Engagement lässt einen an Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt denken, zwei Riesen des Schweizer Theaters. Allerdings verwendeten die beiden sinnbildliche Darstellungsformen, um die Ungerechtigkeiten und die politischen und sozialen Auswüchse anzuprangern. Die Allegorie beschützte sie. Rau hingegen arbeitet ohne Schutz.
Hat das nicht ein bisschen etwas Selbstmörderisches? «Sagen wir, ich bin ein bisschen auf der Suche nach dem politischen, sozialen und physischen Selbstmord», antwortet er lachend. «Obwohl: Was meine Person angeht, weiss ich mich zu schützen. In den gefährlichen Ländern – und nur Gott weiss, ob ich solche überhaupt kenne – bin ich mit Menschen vor Ort zusammen.» Diese helfen Rau bei der Arbeit und schätzen mögliche Gefahren ein. «Aber nun gut, Sie werden mir sagen, dass niemand vor einer Bombe geschützt ist, die ohne Vorwarnung detoniert.»
(Übertragung aus dem Französischen: Kathrin Ammann)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch