Marielle Pinsard: «Dieser Preis ist wie ein Leuchtturm im Meer»
Sieben Personen sind die Gewinner der alljährlich vom Bundesamt für Kultur (BAK) vergebenen Schweizer Theaterpreise. Darunter findet sich auch die Westschweizer Schauspielerin und Regisseurin Marielle Pinsard. Sie wurde für ihr "eigenwilliges multidisziplinäres Erzähltalent" ausgezeichnet. Ein Treffen mit einer unbeugsamen, freiheitsliebenden Frau.
«Ich erwartete alles ausser diesen Preis. Sogar meine Mutter war sehr erstaunt. Als ich ihr sagte, dass ich einen Schweizer TheaterpreisExterner Link gewonnen habe, sagte sie: ‹Mein Mädchen, Du kommst zurück aus der Ferne'», erzählt Marielle PinsardExterner Link amüsiert.
Um mit bewegter Stimme zu ergänzen: «Für mich geht es bei meiner Theaterarbeit um Leben und Tod. Sie müssen deshalb verstehen, dass ich diesen Preis wie einen Leuchtturm im Meer empfunden habe, eine tolle Unterstützung für das wilde Kind, das ich war und vielleicht auch heute noch bin.»
Das Mindeste, was man über Marielle Pinsard sagen kann, ist dass sie unbezähmbar ist. Die Freiheitsliebende hat sich nie an Normen gehalten. Ihre vielen Gesichter schieben genüsslich jede klassische Ästhetik zur Seite, im Leben wie auf der Bühne. Einmal waren es Rastalocken, die ihre kreolische Herkunft betonten. Dann liess sie diese auf einmal fallen und zeigte sich mit Glatze, nur um später wieder zu ihren gewellten Locken zu finden.
Ein neues Gesicht
«Ich zeige gerne ein anderes Gesicht», sagt die 49-Jährige, für die «Stillstand gefährlich ist». In ihr selber treffen und prallen die Frauenbilder aufeinander, die jenen gleichen, die sie in einer ihrer ersten Regiearbeiten, «Comme des couteaux» (2001), antreten liess. Auf der Bühne standen vier Komikerinnen mit mindestens ebenso vielen Gewissenskämpfen zwischen politischem Schlagabtausch, Kampf gegen die Globalisierung, Wirklichkeitsflucht…
Seither konnte Pinsard ihren Stil festigen. Mit viel Originalität bringt die Regisseurin Theater, Performance und Musik unter einen Hut. Auf den Schweizer Bühnen ist ihr Talent anerkannt. Und schon seit längerer Zeit schaffte sie den Grenzübertritt namentlich nach Frankreich, wo sie geboren wurde. Mit 12 Jahren zog sie von Frankreich in die Schweiz.
Afrika und seine Voodoo-Riten
Eines Tages sagte Sandro Lunin, ehemals Direktor des Zürcher Theater Spektakels, zu ihr: «Es ist gut, was Du machst, aber man sollte auch schauen gehen, was anderswo geschieht», erinnert sie sich. Es folgte eine lange Reise: Über ein Jahr lang reiste sie kreuz und quer durch Afrika. «Besonders Benin interessierte mich, mit seinen Voodoo-Riten und seiner geheimnisvollen Objekt-Beziehung», erzählt sie.
Afrika und seine Esoterik inspirierten drei ihrer Programme, darunter auch das aufregendste, «On va tout dallasser Pamela!»Externer Link: «Eines Abends beobachtete ich in einer Bar, wie ein Mann eine Frau verführte, indem er sie fast vergewaltigte. Neugierig geworden, fragte ich, ob Frauen sich wirklich so verführen liessen, wenn sie bereits wussten, was sie erwartete. Der Mann antwortete: ‹Ja.› Deshalb schlug ich ihm vor, im Stück ‹On va tout dallasser Pamela!› mitzuspielen, und ich liess die afrikanische Logik dieses Komikers einfliessen.»
Ähnliches findet sich auch in den anderen Stücken von Marielle Pinsard, mit dem gleichen Ziel: die soziale Realität so zu zeigen, wie sie ist, während man sich amüsiert, weil man dieser von Zeit zu Zeit den Hals umdrehen kann. Eine Provokation? «Nein, nie», sagt sie. Ihre Arbeit sei zuallererst, das Publikum zu unterhalten und dessen Neugier zu wecken.
Auseinandernehmen, um zusammenzusetzen
«Das BAK erwartet von uns nicht, dass wir einschlafen. So wurde ich für mein ‹eigenwilliges multidisziplinäres Erzähltalent› ausgezeichnet», sagt Pinsard. Sie will ihre Eigenwilligkeit weiterhin pflegen. Sie und einige weitere Regisseurinnen und Regisseure ihrer Generation haben eine Bewegung angestossen, die dem Schweizer Theater seine Identität gibt. Eine Identität, die sie so beschreibt: «Wir wissen vielleicht nicht, wie einen Text aufzubauen, aber wir können ihn auseinandernehmen, um damit eine neue Energie freizusetzen.»
Mit anderen Worten gehe es darum, Mythen oder klassische Persönlichkeiten neu zu interpretieren, indem man sie im heutigen Licht zeige. Diese Arbeit werde dadurch erleichtert, dass in einem Land wie der Schweiz kein literarischer Druck herrsche, fehlten ihr doch Schwergewichte wie Molière oder Shakespeare.
«Eine totale Freiheit, um die uns andere Länder beneiden», betont Pinsard. Denn in Frankreich frage man sie oft: «Wie schafft ihr Schweizer Regisseure es, einen erfolgreichen Ansatz zu finden?» Worauf sie antworte: «Dank des Publikums, das nicht immer alles erklären will, was es sieht, und das die Geschichte ihre Geheimnisse bewahren lässt.»
Schweizer Theaterpreise 2017
Die Preisverleihung fand am 24. Mai in Lugano durch Bundesrat Alain Berset statt.
Den mit 100’000 Franken dotierten Grand Prix Theater 2017 / Hans-Reinhart-Ring gewann die in Graubünden geborene Schauspielerin Ursina LardiExterner Link. Sie überzeugte die Jury mit der «Radikalität und Meisterschaft» im Spiel. Lardi ist seit 2012 ständiges Mitglied der Berliner Schaubühne.
Die weiteren Theaterpreise 2017 waren bereits Ende März bekanntgegeben worden. Sie gingen neben Marielle Pinsard an die «Grande Dame des Figurentheaters» Margrit GysinExterner Link, die Autorin und Regisseurin Valérie PoirierExterner Link und das Künstlerduo «TricksterP»Externer Link. Auch das Musicalduo Dominik Flaschka & Roman RiklinExterner Link wurde für seine «unterhaltsame und intelligente» Arbeit geehrt.
Der Schweizer Kleinkunstpreis 2017 ging an das Deutschschweizer Kabarett-Duo «schön&gut»Externer Link.
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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