Tod am See: Jean-Marie Straubs letzte Tage in der Schweiz
Kurz nach Alain Tanner und Jean-Luc Godard ist im letzten November ein weiterer Grossmeister des "radikalen Kinos" gestorben: Jean-Marie Straub, der ebenfalls in der Genferseeregion gelebt hatte. Filmkritiker Christopher Small würdigt den Politaktivisten mit der Kamera und beleuchtet dessen Engagement für den "Widerstand".
Im November starb der radikale Filmemacher Jean-Marie Straub, bekannt für seine lebenslange künstlerische Zusammenarbeit mit seiner Frau Danièle Huillet (1936-2006), einige Monate vor seinem 90. Geburtstag im wadtländischen Rolle.
Die französische Zeitung Le Monde charakterisierte Straub in ihrem Nachruf als «marxistisch, rebellisch, kompromisslos, widersprüchlich, stürmisch und hitzig». Zusammen mit Danièle Huillet habe er eines der einheitlichsten, poetischsten und trotzig undurchdringlichen Werke der Filmgeschichte geschaffen.
In seinen letzten Tagen starrte Straub vom Bett aus auf das herbstliche Panorama der französischen Berge auf der anderen Seite des Genfer Sees, erinnert sich seine Wegbegleiterin Barbara Ulrich.
«Ein permanentes Kino», nannte sie es, als ich letzten Monat im Rahmen der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen mit Ulrich sprach, wo eine Hommage mit vier Filmen Straubs stattfand.
Als die Nacht den See zum letzten Mal in Dunkelheit hüllte, starrte Straub auf die verblassenden Farben der Landschaft und lauschte dem Beginn des zweiten Satzes von Beethovens Streichquartett Nr. 12. «Ich bin krank», sagte er am Tag seines Todes sichtlich überrascht zu Ulrich und nahm ihre Hand, als würde er seine Krankheit zum ersten Mal wahrnehmen.
Im Exil
Weder Straub noch Huillet waren Schweizer:innen. Huillet wurde am 1. Mai 1936 in Paris geboren. Straub kam drei Jahre zuvor in Metz zur Welt, einem Ort, der zur Zeit seiner Geburt zu Frankreich gehörte, während des Krieges deutsch war und am Tag des Sieges (9. Mai 1945) wieder französisch wurde.
Dieses biografische Detail verdeutlicht den paneuropäischen Charakter der Filme der beiden. Während nur wenige Werke der Straubs, wie das Ehepaar genannt wurde, glaubhaft als Adaptionen bezeichnet werden können, basierten sie auf bestehenden Texten, die fast alle aus der Feder von Europäer:innen stammten.
Im Gegensatz zu typischen Adaptionen für die Leinwand, bei denen das Ausgangsmaterial so bearbeitet oder gekürzt wird, dass es in eine filmische Erzählung passt, strebten die Straubs danach, die Originaltexte mit grösstmöglicher Sorgfalt und Kraft in ein anderes Medium zu übertragen. Sie gaben den Worten Raum zum Atmen – ungezwungen und ungeschminkt.
Huillet und Straub lernten sich 1954 in Paris kennen, sie war 18, er 21 Jahre alt. Im Jahr 1958 flohen sie aus Frankreich in die Bundesrepublik Deutschland, nachdem er sich, wie er es darstellte, geweigert hatte, sich an der Terrorisierung Algeriens durch die französische Armee zu beteiligen. Das Paar lebten über ein Jahrzehnt in München im Exil und zog danach weiter nach Italien, wo sie bis zu Danièles Tod Filme produzierten.
Als seine Partnerin im Oktober 2006 an Krebs starb, kehrte Straub mit Ulrich nach Paris zurück, wo er in den nächsten Jahren eine Reihe von Kurzfilmen und Videos produzierte.
In der toskanischen Stadt Buti setzten sie ihre Arbeit fort. Die Reisen von der Toskana nach Paris führten sie jeweils durch die Schweiz, wo Ulrich, sie ist Schweizer Staatsbürgerin, eine Wohnung hatte.
Mit jedem Jahr verlängerten sich ihre Aufenthalte in Rolle. Als Straubs Gesundheitszustand ausgedehnte Reisen nicht mehr zuliess, zogen sie 2015 dauerhaft in die Gemeinde. Vier der letzten sechs Filme, die er zusammen mit Ulrich produzierte, wurden an den Ufern des Genfersees gedreht.
Das Verhältnis zur Schweiz
«Die Schweiz war keine Terra incognita», sagt Ulrich gegenüber SWI. «In den 1960er-Jahren, als sie ihre ersten Filme in München drehten, fuhren sie immer zur Untertitelung nach Genf. Zu dieser Zeit lernte sie auch den Schweizer Filmkritiker und Kurator Freddy Buache kennen. Er hat jeweils Kopien gekauft und die Filme gezeigt.»
Die Arbeit von Straub-Huillet war in den fast 45 Jahren ihrer Zusammenarbeit von intimen und intensiven Arbeitsbeziehungen geprägt. Die Freundschaft mit Freddy Buache, dem langjährigen Leiter der Cinémathèque Suisse (des nationalen Filmarchivs), und dessen unermüdliche Unterstützung ihrer Arbeit hatten einen entscheidenden Einfluss auf Frédéric Maire, den heutigen Leiter der Cinémathèque und ehemaligen Direktor des Filmfestivals von Locarno von 2005 bis 2009 – das Festival, das Straub 2017 einen Ehren-Pardo d’Onore verlieh.
Buache zeigte die ersten beiden Filme von Straub-Huillet, Machorka-Muff (1963) und Not Reconciled (1965), in der Schule von Maire. Er gestand, dass er nur wenig davon verstand, aber die Erfahrung hinterliess bei ihm eine grosse Faszination: Das Kino sollte von nun an den grössten Teil seines Lebenswerks ausmachen.
Straubs letzte Filme behandelten den Genfersee nicht nur als Kulisse, sondern als konkreten Ort, dessen Geschichte es zu erforschen galt. Der französische Kritiker Serge Daney sagte, Straub-Huillets Filme handelten von «Menschen, die Widerstand leisteten»; ein Film wie «Gens du lac» (2018), der fünfzigste Film mit Straubs Namen, ist da keine Ausnahme.
Nach dem Roman der Schweizer Autorin Janine Massard erzählt der Film von zwei Fischern – einem Sohn und einem Vater – , die während des Zweiten Weltkriegs nachts Lebensmittel und Medikamente über den See ins besetzte Frankreich transportierten. Auf dem Rückweg schmuggelten sie Juden und antifaschistische Widerstandskämpfer.
Persönlichkeiten des Widerstands wie diese wurden bis zu deren Tod weder geehrt noch als solche anerkannt. Sie sind Teil einer dunklen, komplizierten Schweizer Geschichte, die sich mit dem Antikommunismus vermischt.
Straubs Film erzählt nicht nur viel über Heldentum und Widerstand, sondern auch über Unglück, Tod und Gewalt, die dieser stillen Seelandschaft innewohnen.
Der katholische Marxist
Dasselbe Streichquartett von Beethoven erklang auch bei Straubs Abdankung in der katholischen Kirche St. Joseph in Rolle am 25. November. Straubs Begräbnis fand später in Paris auf dem Familiengrab von Gattin Danièle in Saint-Ouen statt.
Seine Verabschiedung in einer katholischen Kirche kam für mich irgendwie überraschend, war er doch sein ganzes Erwachsenenleben lang ein kämpferischer Marxist. Klaus Volkmer vom Münchner Filmmuseum, ein Freund der Straubs, bemerkte dazu, dass wenigstens der Leichenwagen weiss und nicht schwarz war.
Als ich Barbara Ulrich in Oberhausen danach fragte, korrigierte sie mein Versehen. Jean-Marie Straubs erste ideologische Liebesaffäre vor dem Kommunismus sei der Katholizismus gewesen. Er habe ein Jesuitengymnasium in Metz besucht und sei deshalb nie ganz davon abgekommen.
Als Ideologien, habe Straub ihr erklärt, würden beide darauf abzielen, «eine schöne neue Welt» zu schaffen – in der einen oder anderen Form. «Und keine von beiden funktioniert», fügte Ulrich hinzu.
Tod am See
Straubs Tod kam nur wenige Monate, nachdem zwei andere Todesfälle in der Schweiz bekannt geworden waren, die Cineasten aus aller Welt erschütterten: Alain Tanner, 92 Jahre alt, starb am 11. September 2022 in Genf, und Jean-Luc Godard, 91 Jahre alt, schied nur zwei Tage später, ebenfalls in Rolle, mittels assistiertem Suizid aus dem Leben.
Wir haben nicht nur drei Vertreter der radikalen Filmtradition des 20. Jahrhunderts verloren, sondern ihr Tod erfolgt auch noch kurz nacheinander und in bemerkenswerter Nähe zueinander. Tanner, Straub und Godard starben innerhalb weniger Monate, nur eine halbe Autostunde voneinander entfernt, am selben See.
Ulrich betont, dass die Verbindung zu Rolle zufällig war, aber dass sie und Straub es natürlich als einen Bonus betrachteten, dass «diese beiden sehr unterschiedlichen Monumente (Godard und Straub)» sich dort zusammenfanden. «Sie waren keine Smalltalk-Männer», unterstreicht sie. «Sie unterhielten sich nur indirekt, durch Filme und Gesten».
Godard hatte Straub-Huillet 1967 einen beträchtlichen Geldbetrag für ihren ersten Spielfilm, «Die Chronik der Anna Magdalena Bach» (1968), zur Verfügung gestellt. Und er setzte sich immer wieder mit seinem ganzen Ruhm öffentlich für ihre Filme ein. Noch vor kurzem betonte er: «Ich glaube nicht, dass sie viele meiner Filme mögen, aber ich mag alle ihre Filme».
Die Erinnerung bewahren
Die Filme von Straub-Huillet waren lange Zeit weder auf DVD noch auf Video erhältlich. Wie die veröffentlichte Korrespondenz mit verschiedenen Verleihern, Filmmuseen und Festivals im Laufe der Jahrzehnte zeigt, bestand Huillet akribisch und nachdrücklich auf bestmögliche Vorführbedingungen.
Nach ihrem Tod und mit der Verbesserung der digitalen Übertragungstechniken wurde ihr Werk allmählich auch für den Heimgebrauch zugänglich.
Ulrich, die Straubs Partnerin in der Produktionsfirma Belva-Film war, machte sich daran, ihr Werk zu bewahren und erneut zu verbreiten, was in einem umfangreichen Restaurierungsprojekt für fast alle Filme mündete. «Ein verrücktes Unterfangen, denn wir haben mit nichts angefangen», erklärt sie.
Eine Retrospektive dieser neuen digitalen Versionen der Filme wurde während der Pandemie auf der Arthouse-Streaming-Plattform MUBI gezeigt. In den letzten Jahren tourte sie durch die ganze Welt und weckte das Interesse an der Arbeit von Filmemacheden, die lange Zeit als marginal, schwierig und sogar abseits des Arthouse-Mainstreams eingestuft wurden.
Die Originalnegative lagern nun sicher in «alten, kalten Kisten» in Frankreich und der Schweiz.
In ihren eigenen Worten: Straub und Huillet im Gespräch, gefilmt von dem portugiesischen Regisseur Pedro Costa. Dieser Ausschnitt ist Teil des Kurzfilms 6 Bagatelas (Sechs Bagatellen), der mit Szenen gedreht wurde, die in der endgültigen Fassung seines Dokumentarfilms über die Straubs, Onde jaz o teu sorriso? (Wo liegt dein Lächeln?), nicht verwendet wurden.
Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger
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