«Tschegge» und «Tröpsli» online nachschauen
Für mundartsprachige Menschen ist das Idiotikon - das Schweizerdeutsche Wörterbuch - eine unerschöpfliche Trouvaille. Es verzeichnet etwa 150'000 Wörter, vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart. Seit kurzer Zeit ist es online abrufbar.
Nein, fertig ist das Riesenwörterbuch noch lange nicht. Bis jetzt wurden 16 Bände gedruckt, der 17. mit dem Buchstaben «Z» ist in Arbeit – und wird in zehn Jahren beendet sein. «Wir sind neben dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm das umfangreichste Wörterbuch der deutschen Sprache, ein Referenzwerk im ganzen hochdeutschen Raum, auf das sich andere Wörterbücher beziehen», sagt Hans-Peter Schifferle, der Chefredaktor.
Dass das Idiotikon nun online abrufbar ist, entspricht der ursprünglichen Absicht, der eigentlichen Idee des Wörterbuchs im 19. Jahrhundert. «Wie viele andere Wörterbücher war bei der Gründung im 19. Jahrhundert geplant, das Wörterbuch als Volkswörterbuch zu gestalten, das von möglichst vielen Leuten genutzt werden kann», sagt der Chefredaktor.
Es habe sich ergeben, dass das Idiotikon fast nur von Fachpersonen benutzt worden sei. «Dies», sagt Schifferle, «weil es zum Kaufen zu teuer ist und weil man zur Benutzung immer in eine Bibliothek gehen musste.»
Dank des Internets wird es jetzt zum Allgemeingut. «Mit der Online-Nutzung peilen wir eine breitere Nutzung an.»
Allerdings seien die zum Teil sehr langen Wortartikel mit vielen Sprachbelegen immer noch recht kompliziert und für Leute, die sich nicht gewohnt seien, wissenschaftliche Texte zu lesen, schwer verständlich. «Eine veritable Volksausgabe ist in Planung», verspricht Schifferle.
210’000 Zugriffe in der ersten Woche
In der ersten Woche nach Aufschaltung der Online-Version wurden 20’000 Besucher registriert, die über 210’000 Zugriffe auf die Homepage tätigten. «Wir sind positiv überrascht», sagt Schifferle, «es können auch Leute, die nicht viel von Mundart verstehen oder noch weniger von der älteren Sprache in der Schweiz, selbst etwas nachschauen.»
Dazu wurde die Suche im Online-Wörterbuch vereinfacht. «Das ist eine der wichtigen Neuerungen, dass man mit sehr vielen Varianten suchen kann. Man kann nun die Wörter so suchen, wie man denkt, dass sie geschrieben werden.» In der gedruckten Ausgabe ist dies nicht möglich.
Im Oktober griffen rund 10’000 Interessierte auf die Online-Version zu, pro Zugriff wurden durchschnittlich zehn Wörterbuchseiten aufgerufen. Das Idiotikon-Online ist ein Erfolg.
Seit 140 Jahren in Arbeit
Die Anfänge des Idiotikons reichen ins Jahr 1806 zurück. Der Pfarrer Franz Joseph Stalder publizierte damals in zwei Bänden einen «Versuch eines Schweizerischen Idiotikons», um den typischen Wortschatz der schweizerdeutschen Mundarten zu dokumentieren. Mehr als 30 Jahre später wurde der «Verein für das Schweizerdeutsche Wörterbuch» gegründet, der noch heute juristisch der Träger des Wörterbuchs ist. Seit 1874 erhält das Idiotikon Subventionen des Bundes und der Deutschschweizer Kantone.
Bis heute wird das Wörterbuch (via die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften) vom Bund mitfinanziert. Auch die Deutschschweizer Kantone bezahlen Beiträge.
Wissenschaftlicher Umgang
In die Streitigkeiten um den Gebrauch der Mundart in Schule oder Kindergarten will sich Hans-Peter Schifferle nicht einmischen. Am Wörterbuch werde seit rund 140 Jahren gearbeitet, unabhängig von so genannten Mundartwellen. Das Idiotikon versteht sich als wissenschaftliches Wörterbuch, das die aktuelle gesprochene und die ältere Sprache wiedergibt.
Die Lexikografen erachten es auch nicht als ihr Ziel, sprachpflegerische Aufgaben wahrzunehmen. «Wir beschreiben die Mundart-Lexik und haben die Mundart sehr gerne, haben aber keinen Anspruch, altes mundartliches Wortgut zu bewahren.» Es gehe lediglich um die Beschreibung der Wörter.
Dies unterscheidet das Idiotikon von vielen kleineren Dialektwörterbüchern, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, den traditionellen Wortschatz abzubilden und so zu bewahren.
«Wir nehmen auch Neologismen, also neu in die Sprache gekommene, Wörter auf. Die traditionellen schweizerischen Mundarten sind schliesslich alle geprägt durch Einflüsse von aussen, die durch die Jahrhunderte aus verschiedenen Sprachen in die Dialekte gelangt sind», erklärt Schifferle.
Als Beispiel nennt er die vielen französischen Wörter, die im 18. und 19. Jahrhundert in die Mundarten integriert worden sind, alltägliche Begriffe wie «Gomfitüüre», «Velo» oder «Trottoir».
Zurzeit wird die deutsche Sprache, sowohl die Standarddeutsche als auch die Mundarten, mit aus dem Englischen stammenden Ausdrücken erweitert. «Im Idiotikon sind daher auch Anglizismen wie «tschegge» (to check) oder «tschutte/schutte» (to shoot), «Tram» oder «Tröpsli» (drops) enthalten», sagt Schifferle.
Keine Einheitsschreibung
Auch was die Mundartverschriftung betrifft, sagt das Idiotikon nicht, welche richtig oder falsch sei. «Wichtig ist, dass man weiss, dass im Schweizerdeutschen keine Einheitsschreibung existiert», sagt Schifferle. Dies sei ein typisches Kennzeichen der Schweizer Mundarten.
«Wir wenden beim Idiotikon unsere eigene Schreibtradition an», sagt Schifferle. In der Schweizer Dialektliteratur existieren mehrere Schreibungen, je nach Dialekt wird die eine oder die andere benutzt oder gar keine – wie Jugendliche, die in ihren SMS-Botschaften, die (Dialekt-) Sprache neu erfinden.
Idiotikon ist eine auf griechisch ídios ‹eigen, eigentümlich› zurückgehende Wortschöpfung und meint wörtlich ein ‹Verzeichnis der einer bestimmten Mundart eigenen Besonderheiten›.
Obwohl das Idiotikon auf die deutschsprachige Schweiz beschränkt ist, hat es eine Wirkung entwickelt, die weit über die Schweiz hinausgeht. «Was die Behandlung der älteren Sprache betrifft, ist das Idiotikon vollständiger als die meisten anderen Wörterbücher», sagt Hans-Peter Schifferle.
Das Frühneuhochdeutsche des 14. bis 17. Jahrhunderts ist nirgends so gut mit Belegmaterial dokumentiert wie im Idiotikon, wo schriftliche Quellen aus den unterschiedlichsten Bereichen ausgewertet werden. Die zeitgenössischen Schriften zum Wirken von Niklaus von Flüh genauso wie die unterschiedlichsten Rechtstexte (Stadtrechte, Gerichtsprotokolle) und die Zürcher Bibelübersetzung seit 1525.
Alle diese Texte seien in der Wortbeschreibung so breit und so genau bearbeitet und berücksichtigt worden, dass es aus dieser Zeit nichts vergleichbar Vollständiges im deutschen Standartsprach-Bereich gebe, sagt Schifferle.
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