Über die Sihlbrücke und bis zum Amazonas
"War meine Zeit meine Zeit", fragt Hugo Loetscher in seinem neuen Buch, das seinem Lebenslauf entlang Flussläufen folgt. Der Rückblick ist nun zu einem Vermächtnis des am Dienstag verstorbenen Weltbürgers unter den Schweizer Schriftstellern geworden.
Er wollte noch nach Syrien reisen diesen Sommer, hat sich nach syrischen Schriftstellern erkundigt, dem Klima und Unterkünften in Damaskus.
Hugo Loetscher nahm sich immer wieder eine Reise vor, blieb neugierig bis zum Schluss.
In den letzten Jahren bereiste er wiederholt die arabische Welt, Ägypten, Tunesien, Libyen.
Die Herzoperation, der er sich kürzlich unterziehen musste, nahm er nicht auf die leichte Schulter.
Kurz davor in einem Radiointerview zu seinen Prognosen für das zukünftige Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU befragt, sagte er in seiner charakteristischen Art, halb ernst, halb scherzend: «Ach wissen Sie, Zukunft, ich weiss ja nicht einmal, ob ich in diesem Herbst noch lebe.»
Nun ist er am Dienstag in Zürich an den Folgen einer schweren Operation in seinem 80. Lebensjahr gestorben.
Kosmopolit und Schweizer
Hugo Loetscher war ein Kosmopolit und zugleich ein Schweizer, der nie ein Problem mit der Enge seines Landes hatte, der die Grenzen der Schweiz überschritt und immer wieder zurückkam.
Er spiegelte die neuen Erfahrungen an den alten, Brasilien an der Schweiz und Ägypten an der Schweiz, wenn er verwundert feststellte, dass sowohl die Araber wie die Schweizer einerseits eine gemeinsame Schriftsprache und andrerseits zahlreiche Dialekte benutzen.
Menschen sollen sich bewegen
«Menschen haben keine Wurzeln, nur Bäume haben Wurzeln», sagte er einmal, «Menschen haben Füsse zum Gehen». Dennoch verleugnete er nie seine Herkunft.
Er sei ein Secondo, definierte er sich, weil sein Vater ein Zugewanderter aus dem Luzernischen war, ein Arbeiter, ein Katholik, der ins zwinglianische Zürich zog. Hugo Loetscher war in Zürich von Anfang an ein Aussenseiter, indem er jenseits der Sihl aufwuchs.
«Die wahre Stadt aber, die lag drüben, am andern Ufer», heisst es in seinem neuen Buch «War meine Zeit meine Zeit», dessen Publikation der Autor nun nicht mehr erleben wird.
«Wie alle bin ich ungefragt auf die Welt gekommen. Ich gehöre zu denen, die versuchten, etwas daraus zu machen»: Mit diesen Worten beginnt der literarische Lebensrückblick Hugo Loetschers und zeigt eben dies, was er daraus gemacht hat: Flussläufe abgefahren, andere Ufer gesucht und Grenzen überschritten, mit Verstand und Poesie, Witz und Ironie: «Die Wunden, die der Verstand schlägt, und die Poesie, die zu heilen versucht. Ein unglückliches Bewusstsein und ein glücklicher Verstand», heisst es im Buch.
Und wenig später: «Ob es da nicht besser war, sich auf und davon zu machen wie das Wasser der Sihl – wohin auch immer.»
Scharfer Denker
Hugo Loetscher war Journalist, Intellektueller und Schriftsteller, dachte scharf und schrieb in Metaphern. Nach dem Studium der Soziologie, Philosophie, Geschichte und Literatur in Zürich und Paris arbeitete er ab 1958 als Redaktor bei der renommierten Kulturzeitschrift du, ab 1964 bei der Weltwoche.
Bereits in seinem ersten Roman «Abwässer. Ein Gutachten» (1963) betrachtete er die Welt von unten, mit einem subversiven Blick, der Verstecktes offenlegt. Immer wieder zog es ihn fort von den Abwässern und der Sihl, hin zu anderen Flüssen, dem Amazonas, dem Nil, dem Mekong und dem Yangtse.
«Der Immune» (1975) war sein erstes autobiografisches Werk, das um das Problem der Identität kreist und seine Brasilienerfahrungen verarbeitet. «Die Augen des Mandarin» (1999) führten nach China und zur Frage eines schwarzäugigen Mandarin an den Fremden aus Europa: «Kann man mit blauen Augen sehen?»
Literarische Instanz
Hugo Loetscher war nach dem Tod von Dürrenmatt und Frisch zu einer Art Instanz der Schweizer Literatur geworden, ohne dass er viel Aufhebens darüber machte.
Er setzte sich im besten Sinn des Wortes kritisch mit seiner Gesellschaft auseinander, mit scharfem Verstand, Witz und Liebe, aber immer ohne Ressentiment.
Hugo Loetscher war ein Einzelgänger und doch gern unter Menschen. Viele werden ihn vermissen.
Susanne Schanda, swissinfo.ch
Hugo Loetscher, geboren am 22.12.1929, wuchs in Zürich auf.
Nach der Matura studierte er an den Universitäten Zürich und Paris Philosophie, Soziologie und Literaturwissenschaft.
1956 promovierte er mit der Arbeit «Die politische Philosophie in Frankreich nach 1945» in Zürich zum Doktor der Philosophie.
Er war Literaturkritiker bei der Neuen Zürcher Zeitung und der Weltwoche.
Von 1958 bis 1962 gehörte er der Redaktion der Monatszeitschrift du an, von 1964 bis 1969 war er Mitglied der Feuilletonredaktion der Weltwoche.
Bis zu seinem Tod lebte er als freier Schriftsteller.
Seit den 1960er-Jahren hat Loetscher ausgedehnte Reisen nach Südeuropa und später nach Südostasien unternommen und sich regelmässig in Lateinamerika – vor allem in Brasilien – aufgehalten.
Seine Werke basieren häufig auf Reiseerfahrungen, beziehen aber auch autobiografische Elemente mit ein.
Neben Reisereportagen hat der Autor Romane, Essays, Fabeln und Theaterstücke verfasst.
Hugo Loetschers Archiv befindet sich im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern. Sein Werk wird vom Diogenes Verlag betreut.
Hugo Loetscher starb am 18. August 2009 nach einer schweren Operation in Zürich.
Sein letztes Werk «War meine Zeit meine Zeit» erscheint am 21. August 2009, drei Tage nach seinem Tod.
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