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Unbekannte Schweiz

Bulgarische Kupferschmiede zeigen traditionelles Roma-Handwerk. swissinfo.ch

Drei Tag lang gaben auf der Arteplage Murten Jenische, Sinti und Roma Einblick in ihr Leben. Damit anerkennt erstmals eine Landesausstellung die Minderheit der Zigeuner.

Der Umgang mit den Fahrenden ist ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte.

Gegenüber dem Monolithen auf der Piazza der Arteplage Murten hat sich eine unbekannte, fremde Schweiz installiert. Eine kleine Wagenburg, Fahrzeuge jenischer Alteisenhändler, ein Zelt mit Hausier-Ware, Scheren- und Messer-Schleifer. Dazu kommen Werkstätten südosteuropäischer Roma, wo Korbflechtern, Kunst- und Kupferschmieden über die Schultern geschaut werden darf.

Aber auch Konzerte und Theater-Aufführungen fehlen nicht. Darüber hinaus geben eine Ausstellung sowie Podiums-Diskussionen einen vertieften Einblick in Geschichte und Kultur der Roma, Sinti und Jenischen in der Schweiz.

Erstes gemeinsames Projekt

«Die Präsenz an der Expo bedeutet für uns vor allem Selbstdarstellung. Hier können wir der Schweizer Bevölkerung zeigen, dass es uns überhaupt gibt», sagt Robert Huber, Präsident der Radgenossenschaft der Landstrasse, dem Dachverband der Jenischen, gegenüber swissinfo.

Die Expo.02 hat zum ersten Mal Roma, Sinti und Jenische zusammengebracht und ihnen eine gemeinsame Plattform zur Verfügung gestellt. Die Expo sei ein Fest für die ganze Schweiz, betont Projektleiter Philipp Bitzer. «Und dazu gehören auch die Zigeuner.» Dennoch sei es nicht einfach gewesen, die verschiedenen Gruppen an einen Tisch zu bringen.

Kulturell verschieden, aber die gleichen Probleme

«Dass wir miteinander hier sind, haben wir dem Umstand zu verdanken, dass man uns immer in den gleichen Topf wirft», meint Stéphane Laederich von der Rroma Foundation. Doch trotz der grossen kulturellen Unterschiede hätten Roma und Jenische die gleichen Probleme.

Über die Jenischen werde nur gesprochen, wenn es Probleme gebe, betont Huber. «Die Behörden wollen uns von der Bevölkerung fernhalten.» Dabei seien Jenische Schweizer Bürger und würden Steuern zahlen, Militär- und Zivildienst leisten und ihr Stimm- und Wahlrecht wahrnehmen. Dennoch sei die Rechtsgleichheit nicht gewährleistet.

Fehlende Stand- und Durchgangsplätze

Zu den grössten Sorgen der Fahrenden gehören die fehlenden Stand- und Durchgangsplätze. Kaum würden sie auf einem Platz auftauchen, sei auch schon die Polizei zur Stelle, die sie oft ohne Begründung fortschicke.

Dass Fahrende unerwünscht sind, hat auch May Bittel, prominenter Sprecher der Schweizer Fahrenden und Mitglied der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus, in Murten erfahren müssen: «Kaum hatte ich meinem Wohnwagen auf den mir von der Expo zugewiesenen Standplatz gestellt, kam auch schon ein Bauer angerannt, der mir sagte, ich hätte sofort zu verschwinden.» Als Bittel dem Bauer den Grund für seine Anwesenheit erklären wollte, warf dieser mit Tomaten nach ihm.

Herkunft als Makel

Anders als für die Jenischen ist für die Roma die fahrende Lebensweise kein fester Bestandteil ihrer Kultur. Die Mehrheit der rund 30’000 bis 40’000 Roma, von denen die meisten als Gastarbeiter nach dem 2. Weltkrieg in die Schweiz kamen, sind völlig integriert. Sie sprechen Schweizerdeutsch, arbeiten in den verschiedensten Berufen und werden selten als Roma erkannt. Was sie verbindet ist ihre gemeinsame Sprache, das Romanes, und eine reiche Kultur.

«Nur wenige getrauen sich, sich als Roma zu outen», sagt Cristina Kruck, Präsidentin der Rroma Foundation. Man sei in der Schweiz lieber Ausländer als Zigeuner zu Hause. Es mache sich schlecht, bei der Arbeitssuche die Roma-Identiät bekannt zu geben, erklärt Laederich, der in Zürich als Banker arbeitet. Denn die Vorurteile gegenüber den Zigeunern sind gross und halten sich hartnäckig: kriminell, unzuverlässig, schmutzig.

Erfolgreiche Zusammenarbeit

Mit ihrem Auftritt an der Expo hoffen die Zigeuner, mit der Mehrheits-Bevölkerung in Kontakt zu kommen und dieser einen kleinen Einblick in ihre Lebensweise zu ermöglichen. Das Publikums-Interesse ist gross, und Roma wie Jenische sind mit dem Verlauf der Zigeunertage sehr zufrieden.

Die Expo hofft, dass die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Gruppen weitergeht. Ob dies gelingt, ist jedoch offen. Er sei unsicher, ob es weitergehe, sagt Stefan Heinichen von der Rroma Foundation. Die kulturellen Unterschiede zwischen Roma und Jenischen seien sehr gross. «Die Zusammenarbeit mit den Jenischen ist primär politisch. Den Roma geht es hier vor allem darum, eine Lobby aufzubauen.»

Die Tage der Jenischen, Sinti und Roma haben vor allem eines deutlich gemacht: die Vielfalt der Kulturen und Lebensweisen, die sich hinter dem Wort Zigeuner verbirgt. Doch die Expo hat nicht nur Berührungspunkte zwischen «Zigeunern» und «Sesshaften» geschaffen, sondern auch Kontakte zwischen den Roma, Sinti und Jenischen. Dies ist ein guter Anfang. Denn wie die Präsidentin der Rroma Foundation bei einer Podiumsdiskussion im Murtener Ratshaus betont hat: «Ein Fremder ist ein Freund, den ich noch nicht kennen gelernt habe.»

Hansjörg Bolliger

In Europa leben rund 8 bis 12 Mio. Roma.

Roma sind Europäer indischer Abstammung mit einer gemeinsamen Sprache, dem Romanes.

Die seit Jahrhunderten hauptsächlich in Deutschland, Frankreich und Italien lebenden Roma bezeichnen sich als Sinti.

In der Schweiz wohnen zur Zeit ca. 30’000 bis 40’000 Roma. Davon sind 200 bis 300 Fahrende.

Jenische nennen sich die in der Schweiz, Deutschland und Österreich lebenden Fahrenden, die nicht Romanes sprechen.

Von den heute 30’000 Jenischen in der Schweiz ziehen noch etwa 5000 mit ihrem Wohnwagen durchs Land.

Zwischen 1926 und 1973 wurden über 600 jenische Kinder ihren Eltern entrissen und in Pflegefamilien, Heimen oder psychiatrischen Kliniken untergebracht.

Im Unterschied zu den Sprachgruppen werden Jenische in der Bundesverfassung nicht geschützt.

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