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“Plötzlich wird die Schweizer Grenze sehr tief”

Architektur Modell
© Keystone / Gaetan Bally

Die Grenze der Schweiz ist keine Linie, sondern ein Raum mit vielen Gesichtern. Im Schweizer Pavillon an der Architekturbiennale in Venedig fächert sich dieser Raum auf in ein kollektives Porträt.

Die Gischt spritzt mir ab und zu ins Gesicht, als ich im Vaporetto durch Venedigs Lagune fahre. San Pietro, Sant’Elena, San Isepo, Sant’Ana… Über 120 Inseln umfasst allein die Kernstadt, die umliegenden Inseln und die Sandbänke des Lidos nicht eingeschlossen. Die Anzahl hängt auch davon ab, ob man die Felsen mitzählt, die bei Ebbe sichtbar werden und mit der einsetzenden Flut wieder verschwinden. «Festes Land» ist in Venedig keine eindeutige Sache.

«orae – Experiences on the Border», der Titel der Ausstellung im Schweizer Pavillon an der Architekturbiennale, passt gut in das ungefähre Territorium der venezianischen Stadt. Der lateinische Begriff lässt sich mit Grenze oder Rand übersetzen.

Ausserdem steht er für Küste, diesen wandelnden Raum zwischen Land und Wasser, in dem verschiedene Lebenswelten aufeinandertreffen. Das Projekt, das von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia ausgewählt wurde, widmet sich der Grenze der Schweiz. Diese liegt nicht am Meer, auch sie ist keine Linie, sondern ein Raum mit vielen Gesichtern.

Ein vierköpfiges Team aus der Romandie – bestehend aus dem Filmer Fabrice Aragno, dem Architekten Mounir Ayoub, der Architektin und Landschaftsarchitektin Vanessa Lacaille und dem Bildhauer Pierre Szczepski – hat während zwei Jahren die Schweizer Grenze untersucht.

Sie reisten in einem umgebauten Lastwagen, der zuerst als Werkstatt, später als Forum diente. Sie fotografierten, filmten, aber vor allem sprachen sie mit den Menschen, die in diesem Grenzraum leben. 49 Geschichten haben sie nach Venedig gebracht und zu einem kollektiven Porträt einer lebendigen Schweizer Grenze verdichtet.

vier Künstler:innen
Das Genfer Team: Mounir Ayoub, Vanessa Lacaille, Fabrice Aragno und Pierre Szczepski. (Von links nach rechts) Pro Helvetia / Gaetan Bally

Das Kollektiv lud die Bewohner:innen ein, ihre individuelle Wahrnehmung in räumliche Modelle zu übersetzen. Diese sind imaginär und zeigen gleichwohl Realitäten auf. Das Modell als anschaulichstes Werkzeug der Architekt:innen beweist seine Qualitäten. Als Besucher:innen des Pavillons können wir uns in die Modelle hineinprojizieren und an den Erfahrungen dieser Menschen teilhaben.

Je nachdem, wer Du bist …

Hier zeigt sich bereits die politische Reichweite des Projekts. «Je nachdem, wer Du bist, variieren die Wahrnehmungen und Erfahrungen mit diesen Realitäten sehr stark.» Vanessa Lacaille erzählt am Beispiel von Ursula Fogliada-Salis aus dem schweizerischen Castasegna und Delia Giorgetta aus dem italienischen Chiavenna, wie zwei Personen im Bergell eine grundverschiedene Wahrnehmung desselben Raums haben können.

«Für die Frau von Castasegna war die Grenze etwas Angenehmes, wie ein ‹paese› (ital. für kleines Dorf). Sie entwarf ein sehr detailliertes Modell mit dem Dorf und einem Kastanienhain. Die andere Frau entwarf nur eine Strasse zum Hotel, wo sie arbeitet. Eine Linie, die einen Pass überquert; die Landschaft ist verschwunden.»

Projektion auf Architekturmodell
Projektoren bescheinen die Modelle, Wände und den Boden mit wechselnden Lichtbildern. Pro Helvetia / Gaetan Bally

Andere wiederum haben gar keine räumliche Vorstellung der Schweizer Grenze. Massoma Amiri Yousefi, eine Rechtsanwältin, die in Afghanistan aufwuchs und im Iran gearbeitet hat, baute deshalb ein Modell des Bamiyan-Tals. Der Ort wurde der Weltöffentlichkeit spätestens mit der Zerstörung seiner berühmten Buddah-Statuen durch die Taliban bekannt.

Den Filmer Fabrice Aragno hat diese Geschichte besonders berührt. Nicht in erster Linie wegen den einzelnen Schicksalen, sondern weil sie etwas anderes über die Schweizer Grenze aussagt: «Plötzlich wird die Schweizer Grenze sehr tief.»

Architekturmodell
Aus kleinen Lautsprechern ertönen Stimmen, dann ein Zirpen der Grillen. Keystone / Gaetan Bally

Und dann gibt es die Menschen, für welche die Grenzen durchlässig sind. Marc Zehntner radelt mit seinem Velo durch drei Länder an seinen Arbeitsplatz in Weil am Rhein, vorbei an den Bauten von Novartis, von Roche und dem Vitra Museum. Der Grenzraum ist hier ein Schaulaufen international gefeierter Architektur. Auch Daniel Hahn muss sechs Zollstationen passieren, wenn er im Rhein in der Nähe von Schaffhausen schwimmen will.

Für ihn behält das Territorium einen eigenartigen Charakter: «Im Raum zwischen zwei Zollstationen weiss man nie so recht, wo man sich befindet. Es herrscht ein ständiges Gefühl der Ungewissheit.» Annabelle Marlhes schliesslich taktet ihren täglichen Weg von Belley zu ihrer Musikschule in Genf nach der Musik. Jeder Ort, den sie durchreist, entspricht genau einem Song ihrer Smartphone Playlist.

Die Beziehung zwischen den Dingen

Im hinteren Teil des Ausstellungsraums führt eine Treppe auf ein kleines Podest. Hier treffen wir auf Jacqueline Kissling, die in Staad in der Ostschweiz lebt. Von ihrem Haus sieht sie den Bodensee und den Himmel. «Von hier aus habe ich eine Beziehung zur Welt», hören wir sie sagen.

«Da ist der Horizont, ein Segment der Planetenkurve. Der Himmel versorgt uns mit allen möglichen Geschichten. Die Wolken kommen alle von woanders her. Vielleicht ist das der Grund, warum die Grenze für mich nicht existiert. Der Wind treibt die Wolken höher als die darunter liegenden. Spektakulär ist es am Abend gegen 20.30 Uhr, wenn das letzte Flugzeug vor der Landung auf dem Flugplatz über uns hinwegfliegt. Es macht Wuuuh! (und ahmt damit das Geräusch eines überfliegenden Flugzeugs nach). Eine beleuchtete Wolke taucht so auf.»

Projektion und Modell
Die Modelle stehen oder liegen auf Stahlrohrgestellen, die mit dem grauen Steinboden verschwimmen Keystone / Gaetan Bally

Die Architekturbiennale in Venedig wurde bereits im Mai 2021 eröffnet. Vom 23. bis zum 25. September fanden die «Pavilion Days» statt, an denen die teilnehmenden Länder verschiedene Veranstaltungen organisieren. In diesem Rahmen hat der Bundesrat Alain Berset den Schweizer Pavillon besucht und offiziell gewürdigt. Ebenfalls in diesen Tagen fand der erste Salon Suisse statt, eine Veranstaltungsreihe der Kulturstiftung Pro Helvetia zu architektonischen Themen.

Interview mit Eveline Steiner

Schweizer Pavillon

«orae – Experiences on the border»

22. Mai bis 21. November 2021

Salon Suisse

September Salon «Kindred Spirits»

23. bis 25. September 2021

Oktober Salon «Realities»

21. bis 23. Oktober 2021

November Salon «Alterations»

18. bis 20. November 2021

Informationen zum Schweizer Pavillon und dem Salon Suisse:

biennals.chExterner Link

Jacqueline Kisslings ästhetische Perspektive ist eine Einladung, unseren Blick über das Archipel aus Modellen, Bildern und Stimmen schweifen zu lassen. Aus der Überlagerung von Filmbildern und Modellen entstehen ständig neue Kombinationen. Vom Flugzeug, das über dem Bodensee abhebt, gelangen wir in die Wohnung von Gail Menzi in Genf, die ein Kind ohne Papiere in ihre Obhut genommen hat.

Das Kind schaut ebenfalls durch das Fenster den Flugzeugen nach, ohne dass es die Möglichkeit hätte, eines zu besteigen. Der offene Grenzraum des Bodensees überlagert sich mit den abschätzig «La Bétaillère» (Viehwaggon) genannten Booten auf dem Genfersee, welche die Grenzgänger:innen zu ihrer Arbeitsstätte hin- und wieder zurückbringen.

Ausstellungsraum
Die skulpturalen, weissen Styroporkörper treiben wie Eisblöcke im Raum. Keystone / Gaetan Bally

Die Schweiz als Grenzraum

«Wir möchten, dass die Besucher:innen ihre eigene Wahrnehmung der Grenze, ihre eigenen Narrative entwickeln», sagt Fabrice Aragno. Und im Katalog steht der Satz: «An der Grenze ist die Beziehung zwischen den Dingen wichtiger als es die Dinge selbst sind.»

Vielleicht liegt in diesen Statements auch eine Antwort auf die Frage «Wie wollen wir zusammenleben?» von Hashim Sarkis, dem Kurator der Architekturbiennale 2021. Dass wir von Grenzen lernen können, diesen Perspektivwechsel für die Gestaltung des Lebensraums zu nutzen.

Die Schweiz als kleines Land inmitten von Europa mit seinen zahlreichen Migrant:innen und seiner globalen Vernetzung hat eine andere Beziehung zu seinen Grenzen als ein grosser Staat. Der Agronom Matthieu Calame, den das Team für das Projekt beigezogen hat, geht soweit, die Schweiz als eine «riesige, von Europa umgebene Grenze» zu bezeichnen. Sein Grenzraum, so wie er in «orae» dargestellt ist, löst sich von nationalen Grenzen.

Während ich mich durch den Pavillon bewege, fühle ich mich wieder wie auf dem Vaporetto. Die 1935 Kilometer lange Linie, die entlang der fünf benachbarten Staaten die Form der Schweiz zeichnet, fächert sich auf in einen lebendigen Raum.

Die Biennale «How will we live together?» von Hashim Sarkis ist noch bis zum 21. November 2021 zu sehen:labiennale.orgExterner Link

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