Villa Baizeau in Tunesien: Le Corbusiers unbekanntes Haus am Meer
In den frühen 1930er-Jahren verwirklichte der schweizerisch-französische Architekt Le Corbusier ein kühnes Bauprojekt in Tunesien. Die Villa Baizeau bedeutete die Abkehr von traditioneller Architektur: Sie stand für die Sehnsucht nach Freiheit, für eine Auszeit von der Vergangenheit und für das Streben nach einer einzigartigen Form von Schönheit. Heute wird das Gebäude von der tunesischen Sicherheitspolizei genutzt.
Lucien Baizeau (1874–1955) war ein französischer Kolonialist und Bauherr in Tunesien, der 1928 an den bekannten schweizerisch-französischen Architekten Le Corbusierund dessen Partner und Cousin Pierre Jeanneret gelangte. Sein Auftrag: im Vorort Karthago bei Tunis ein Sommerhaus auf einem Hügel zu bauen.
Baizeau war erstmals 1927 im Rahmen einer Ausstellung des Deutschen Werkbunds in Stuttgart mit der Arbeit von Le Corbusier in Kontakt gekommen. Die Ausstellung brachte Künstler, Architekten, Designer und Industrialisten zusammen und war ein Vorläufer der Bauhaus-Bewegung.
Ein Jahr später schickte er Le Corbusier einen Vertrag mit einer detaillierten Zeichnung für die zukünftige Villa. Ihm schwebte ein modernes Haus vor, das speziell für den Mittelmeerraum gestaltet und vor Sonne und heissen Winden geschützt war.
Damit begann die Geschichte der Villa Baizeau, des einzigen Bauwerks von Le Corbusier in Afrika – ohne dass der Stararchitekt je vor Ort gewesen wäre.
Gestaltung auf dem Korrespondenzweg
Ohne Augenscheinnahme legte Le Corbusier seinem Auftraggeber zwischen 1928 und 1930 auf dem Korrespondenzweg vier Baupläne für die Villa vor, die Baizeau jedoch alle ablehnte, weil sie seinen Wünschen nicht entsprachen.
1930 wurde die Villa fertiggestellt – mit einigen Abweichungen zu den ursprünglichen Plänen, um den Eigenheiten des Grundstücks an der Küste mit Meerblick Rechnung zu tragen. Die Farben aussen und innen sind ein Ausdruck von Le Corbusiers puristischer Palette: blau, hellgrau, dunkles Bernstein, rosa, grün und mittelgrau.
In Anlehnung an Le Corbusiers “Maison Dom-Ino” und seine “Fünf Punkte zu einer neuen Architektur” ist die Villa Baizeau offen gestaltet, mit überstehenden Terrassen auf drei Seiten als Sonnenschutz. Dazu gehörten auch freistehende Fassaden, also Aussenwände, die nicht mit der Grundstruktur verbunden sind. Le Corbusier schuf so offene Ebenen, die einerseits möglichst viel natürliches Licht einlassen, andererseits die Privatsphäre der Hauseigentümer jederzeit gewährleisten.
Die Bezeichnung “Dom-Ino” ist eine Wortschöpfung aus dem Lateinischen Domus (Haus) und dem Namen des Spiels Domino – in Anlehnung an die Grundrisse der Häuser, die wie Dominosteine aneinandergereiht werden konnten. Abgesehen vom Projekt in Tunesien entstand auch die Villa Savoye in Frankreich nach dem «Dom-Ino»-Prinzip.
Le Corbusier sah auch ein natürliches Belüftungssystem der Villa vor. Die Luft fliesst gleichmässig vom Erdgeschoss bis zum Dach und so durch sämtliche Räume, die alle miteinander verbunden sind.
Als “Ergebnis von Ehrgeiz” bezeichnet der tunesische Architekt Jamal Lamloum die Villa Baizeau. “Da war einerseits Lucien Baizeaus Ehrgeiz, ein Haus zu bauen, das seinen Ideen und Wünschen entsprach, andererseits Le Corbusiers Ehrgeiz, die Grenzen von Bedeutung und Raum aufzulösen.”
Hinter Stacheldraht geschützt
1947 verliess Familie Baizeau ihr Zuhause im Herzen von Tunis und liess sich dauerhaft in der Villa nieder. Mit Tunesiens Unabhängigkeit wurde die Villa 1961 dann aber verstaatlicht und in den benachbarten Präsidentenpalast integriert. Die Baizeaus verliessen Tunesien Richtung Frankreich.
Gemäss einem Artikel in der französischen Tageszeitung Le Monde wird die Villa Baizeau seither als Archiv der tunesischen Geheimpolizei verwendet und ist für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich.
Trotz der historischen und ästhetischen Bedeutung der Villa sind weder Besuche noch Fotos erlaubt. Ausnahmen werden nur Einzelpersonen wie Architekt:innen oder Wissenschaftler:innen gestattet. Selbst eine Bewilligung, die Villa von aussen zu besichtigen, wird kaum je erteilt.
Die UNESCO fasste 2016 in Anerkennung von Le Corbusiers innovativem Schaffen 17 seiner architektonischen Werke als Weltkulturerbe zusammen – die Villa Baizeau gehört jedoch nicht dazu.
Heute liegt sich die Villa hinter dichten Bäumen versteckt und ist mit Stacheldraht gesichert. Auf dem Weg zum nahegelegenen Wirtschaftsinstitut der Universität Karthago IHEC kann man durch die Bäume einen kurzen Blick auf die Villa erhaschen. Die Studierenden des IHEC sind sich jedoch kaum bewusst, dass ihre Kurse in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem architekturhistorischen Gebäude stattfinden.
“Die Villa Baizeau muss wieder in der Sonne erstrahlen”
Im laufenden Jahr erweckte eine Kulturausstellung mit dem Titel 32Bis die Villa mit einer Sonderausstellung wieder zum Leben. Die Villa selbst blieb zwar für die Öffentlichkeit weiter unzugänglich. Die Ausstellung hingegen bot eine seltene Gelegenheit, das Gebäude auf andere Art zu entdecken.
“Nie hätte ich gedacht, dass ich mal ein Gebäude von Le Corbusier in Tunesien sehen würde”, erklärt der tunesische Architekt Roeya Mansour beim Besuch der Ausstellung begeistert.
Die Ausstellung vom 15. Januar bis 15. Mai 2024 bestand aus einer Reihe von Veranstaltungen und Vorträgen zu zeitgenössischen Gemeinschaftsunterkünften und zu Le Corbusiers Erbe sowie aus einer Reportage über die Villa Baizeau mit zahlreichen Dokumenten und Bildern.
“Da ist ein historisches Gebäude, und man sieht es nicht – das ist schon sehr speziell”, meint Melliti*, die am IHEC demnächst ihren Abschluss macht. Die Studentin empfindet das aktuelle Interesse um die Villa jedoch als positiv. Für sie ist die Villa Baizeau ein “Teil des kulturellen Erbes von Tunesien, das es zu bewahren gilt”.
Die Ausstellung präsentierte eine Sammlung von Dokumenten und Archivmaterial im Zusammenhang mit der Villa im heutigen Nobelviertel Karthago, einschliesslich die Korrespondenz zwischen Auftraggeber und Architekten. Die meisten Dokumente wurden von der Le Corbusier Fondation in Paris zur Verfügung gestellt, darunter Audio-Aufnahmen von Baizeaus Nachkommen und Verwandten sowie Fotoalben mit Bildern der Familie beim Abendessen, beim Kaffee oder mit spielenden Kindern.
Auch die jüngsten Aussenaufnahmen der Villa Baizeau durch den französischen Fotografen Thomas Belhom aus dem Jahr 2015 wurden gezeigt. Diese Bilder werden in Erinnerung bleiben, denn andere Fotos von aussen sind keine bekannt – oder aber sie wurden aus grosser Distanz aufgenommen.
Die Ausstellungsmacher:innen kombinierten zudem Archivmaterial von Baizeau und Le Corbusier mit Künstlicher Intelligenz und liessen so die Villa Baizeau virtuell wieder aufleben.
Architekt Lamloum ist der Ansicht, dass die Villa Baizeau unbedingt als architektonische Quelle und für den Kulturtourismus genutzt werden sollte. Nicht weit davon befindet sich der Küstenort Sidi Bou Said, eine Tourismusdestination im Golf von Tunis. Und er hat einen klaren Wunsch: “Die Villa Baizeau muss wieder in der Sonne erstrahlen!”
*Vollständiger Name der Redaktion bekannt. Auf Wunsch der Studentin wurde nur der Familienname verwendet.
Editiert von Virginie Mangin/gw. Übertragung aus dem Englischen: Lorenz Mohler
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