Von der Schönheit des Unsichtbaren
Schönheit einer Welt, die niemand je zu Gesicht bekommen wird, Poesie mathematischer Formeln, philosophische Fragestellungen hinter wissenschaftlicher Forschung: Das alles zeigt "The Sense of Beauty" des italienisch-schweizerischen Regisseurs Valerio Jalongo. Gespielt wird der Film am Festival "Visions du Réel" in Nyon. Dabei handelt es sich um weit mehr, als nur einen weiteren Dokumentarfilm über das CERN.
Er sagt es selber: «Zu Beginn wusste ich nicht gerade viel über das CERNExterner Link. Und von Mathematik und Physik verstand ich in der Schule eher wenig.» Dennoch ist Jalongo fasziniert von dem Labor der Superlative. Ein erster Besuch der Gebäude bei Genf («ein bisschen enttäuschend», denn in der Tat geben sie optisch nicht viel her), ein bisschen Lektüre und einige Treffen reichen aus. Der Regisseur stürzt sich in ein Projekt, das ihn drei Jahre beschäftigen wird.
«Sense of Beauty», eine schweizerisch-italienische Koproduktion, ist kein didaktischer Film. Das Higgs-Boson, die Supersymmetrie, die Dunkle Energie – diese Welt, in der sich die Grösse in milliardstel Millimeter und die Zeit in milliardstel Sekunden messen – werden nur erwähnt. «Die grosse Herausforderung war es, Bilder zu zeigen. Und die Elementarteilchen, die im CERN erforscht werden, bleiben unsichtbar», erklärt Jalongo.
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«The Sense of Beauty» – in drei Minuten
Sechster Sinn
Im Gespräch mit den Wissenschaftlern bemerkte Jalongo, dass diese etwas mit Künstlern gemeinsam haben: «Einerseits natürlich die Vorstellungskraft, andererseits aber auch den Sinn fürs Schöne, eine Art sechster Sinn, den sie nutzen, um sich der Wahrheit zu nähern.» Diese Verknüpfung ist nicht neu: Viele grosse Gelehrte der Vergangenheit waren auch Artisten oder umgekehrt (so wie beispielsweise Leonardo da Vinci). Und die Physiker im CERN, die versuchen, die letzten Geheimnisse der Natur zu knacken, sind zwangsläufig auch Philosophen. Mit dem Aushängeschild Arts at CERNExterner Link verfügt die Institution seit Jahren über ein eigenes Künstler-Programm im Haus.
Für die Wissenschaftler gilt übrigens: Je «schöner» eine Theorie oder eine Gleichung, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass sie stimmt. «Es gibt keine mathematische Definition der Schönheit, doch wenn man sie sieht, dann erkennt man sie», erklärt einer von ihnen im Film.
«Poetische Maschine»
Und tatsächlich, im Film sieht und hört man sie. Bilder, welche die Bewegung von Elementarteilchen simulieren, wie grazil ineinander verschlungene Körper von Schlangenmenschen, Wassertropfen, die sich auf dem Glas eines Rückspiegels winden oder sphärische Musik: Die Künstler geben einem dieses wunderbare Gefühl, den Kern der Schöpfung zu berühren.
Die künstlichen Bilder mischt der Regisseur mit anderen, natürlichen. Hier zeugen Wälder, Regen, Wind aber auch Sonneneruptionen und der Tanz von Himmelskörpern von einer umwerfenden Schönheit. Jalongo liess seine Kameras auch durch barocke Kathedralen in Italien schweifen, oft auf Drohnen montiert, um dem Bild eine echte Höhe zu geben. Auch filmte er in den Tunnels des CERN, wo der Teilchenbeschleuniger glüht, «die weltweit grösste Maschine, eine poetische Maschine, denn sie produziert nichts und dient zu nichts…».
Farbenreich
Am Ende einer 75-minütigen Reise (begleitet von sehr schöner Musik von Maria Bonzanigo und von Carlo Crivelli, gespielt vom Orchester der italienischsprachigen Schweiz) versteht man immer noch nicht, wie diese Welt des unendlich Kleinen, des unendlich Schnellen, des unendlich Warmen und Energetischen funktioniert. Die Materie in der Grösse, in der man sie am CERN erforscht, wird von den Gesetzen der Quantenmechanik geregelt, welche den Verstand herauszufordern scheinen.
Hier kann ein Partikel sowohl ein «Körnchen» Materie oder eine Welle sein, sich gleichzeitig in beide Richtungen um die eigene Achse drehen oder eine Mauer gleichzeitig durch zwei Löcher durchbrechen. «Es ist, als ob sie einen Pullover tragen würden, der gleichzeitig rot und grün ist» bringt es ein Physiker auf den Punkt.
Aber ist das am Ende wichtig? Das Projekt von Jalongo fokussierte nicht darauf. Er wollte zeigen, dass die Wissenschaft schön ist, so wie sie die Natur beschreibt. Für ihn ist das CERN «ein Modell der selbstlosen Zusammenarbeit zwischen Menschen, die nichts anderes suchen als die Erkenntnis. Es ist wichtig, das den Menschen zu zeigen, die sich vom System ausgeschlossen fühlen».
Denn hier ist das System total offen und der Film ruft das in Erinnerung: Im CERN gibt es keine Geheimnisse, keine Patente, sämtliche Resultate sind allen zugänglich – und um diese unter die Leute zu bringen, erfand die Institution das World Wide Web. Im grössten Labor der Welt gibt es auch keine Fahnen. Hier kommen Araber und Israelis, Russen und Ukrainer, Pakistaner und Inder zusammen, geeint durch die Leidenschaft für die Erkenntnis. Und durch den Schönheitssinn.
(Übertragung aus dem Französischen: Kathrin Ammann)
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