Volksmusiker suchen Inspiration über Genregrenzen
Es ist eng in der Umkleidekabine. Kein Wunder, entspannen sich doch ein Volksmusik-Trio, eine Jazzsängerin und ein klassischer Violinist vor dem gemeinsamen Auftritt. Solche genreübergreifende Konzerte sind in der heutigen Volksmusik an der Tagesordnung – wie auch die Bewegung zurück zu den Wurzeln.
Auf der Bühne des ausverkauften Konzerts in Stans liegen zwei Halbkreise von Schwyzerörgeli – dem jahrhundertealten Markenzeichen der traditionellen Schweizer Volksmusik. Doch statt alte Klassiker zu spielen, liefert das Musik-Kollektiv Neu-Interpretationen von Volksliedern in Rätoromanisch, der schweizerischen Minderheitensprache, und Schweizerdeutsch.
Es war die Idee der charismatischen Schauspielerin und Sänger-Songwriterin Corin Curschellas, die nach vielen Jahren im Ausland ihre Wurzeln wieder entdeckt hat. Sie konnte sich dabei aus dem Archiv eines Mannes bedienen, der in den Dörfern der Schweiz 2000 Volkslieder gesammelt hat, indem er die Einwohner singen liess.
«Es ist eine Sammlung mit unglaublichen Perlen», sagt Curschellas. Sie hat daraufhin das Crossover-Volksmusik-Trio «Pflanzplätz» und den Violinisten Andy Gabriel angefragt, ob sie mithelfen würden, 22 traditionelle Lieder neu zu interpretieren und sie «wiederzubeleben».
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Eine Jodlerin, die neue Töne anschlägt
Crossover
Sowohl «Pflanzplätz» wie auch Gabriel arbeiten oft mit diversen Stilen; Gabriel improvisiert von Pop bis Klassisch, die Männer von «Pflanzplätz» mischen ihre Musik unter anderem mit Rock, Jazz und Dance.
Warum? «Zusammenspiel, Austausch und interessante Inputs», sagt Simon Dettwiler, ältestes Mitglied von «Pflanzplätz». «Es ist auch eine Frage des Sounds. Die schweizerischen diatonischen Akkordeons sind anders, tönen aber wie ein Akkordeon. Wenn man eine Violone, einen Sänger, eine Zimbel und eine Klarinette hat, öffnet das den Sound.»
Crossover-Gruppen wie diese sind eine der Richtungen, in die sich die Schweizer Volksmusik in den letzten Jahren entwickelt hat, neben den Traditionalisten und der Avantgarde. Die jüngste Entwicklung bringt zahlreiche junge Musiker hervor, die zurückschauen und die jahrhundertealten Stile neu erfinden.
Die Volksmusik in der Schweiz ist heute klar definiert und als traditionelle Musik bekannt, die mündlich überliefert wird. Dieter Ringli, Musikethnologe und Autor eines Standardwerks über Volksmusik, definiert sie als Musik, der man anhört, woher sie stammt.
Während des letzten Jahrhunderts hat sich die Schweizer Volksmusik-Szene in verschiedene Richtungen aufgeteilt. Mit der Gründung des Eidgenössischen Jodlerverbandes vor etwas mehr als 100 Jahren wurde sie erstmals strukturiert. Er publizierte traditionelle Stücke und neue Kompositionen und führte strikte Regeln ein.
Die daraus entstandene «Ländermusik» (traditionelle Musik vom Land) wurde von der Landesregierung im II. Weltkrieg als Propaganda-Instrument eingesetzt und wurde immer populärer, weil diese Form immer standardisierter und als ein Weg angesehen wurde, die Tradition zu erhalten.
Gleichzeitig entwickelte sich die Volksmusik in andere Richtungen. Volksmusik geht heute vom «Schlager» (beliebt im deutschsprachigen Raum) über kommerzielle Volksmusik («Oesch’s die Dritten» oder «Jodlerklub Wiesenberg») und einer starken Crossover-Volksmusik-Szene, die andere Instrumente und Stile einsetze, bis zum Avantgarde-Folk.
Heute arbeitet eine wachsende Zahl Musiker an der Neuinterpretation von alten Stilen aus dem frühen 20. Jahrhundert.
(Quellen: Dieter Ringli, Kulturstiftung Pro Helvetia, Swissworld.org)
Mehr Wettbewerb
Volksmusik hat sich schon immer mit anderen Stilen vermischt, doch erstmals werden nun solche Kollektivarbeiten «institutionalisiert»: An der Hochschule Luzern gibt es für Jazz- und Klassikschüler ein spezielles Volksmusik-Modul.
Studienkoordinator Daniel Häusler erklärt, der Hauptimpuls sei, Übung mit traditionellen Instrumenten wie dem diatonischen Akkordeon oder dem Hackbrett anzubieten. Doch der Kurs solle aus Jazzschülern nicht Volksmusiker machen.
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Ein Instrument zwischen Tradition und Techno
«Jeder Musiker muss seinen eigenen Weg finden. Es gibt viele Volksmusiker, die Autodidakten sind. Wir bieten den Studierenden lediglich ein so umfassendes Training wie möglich an, damit sie die Herausforderungen, die sie als Volksmusiker antreffen könnten, möglichst gut handhaben können.» Fähigkeiten wie Erinnerungsvermögen und Improvisation werden gelehrt, von denen auch Jazz- und Klassikschüler profitierten, so Häusler.
Die Kurse haben erst vor ein paar Jahren begonnen, doch in der Volksmusik-Szene blieben sie nicht unbeachtet. «Es wird zu mehr und besser ausgebildeten Musikern führen», sagt Musikethnologe Dieter Ringli, der 2005 das Handbuch «Schweizer Volksmusik» veröffentlicht hat und heute diverse Musikstile unterrichtet. «Ich weiss aber nicht, ob damit auch die Musik besser wird. Wir werden sehen.»
Einige Amateur-Volksmusiker machten sich wegen der Kurse Sorgen und befürchteten, sie könnten mit den Profis nicht mehr Schritt halten. Es sei heute hart, sein Brot mit Volksmusik zu verdienen.
«Die meisten von diesen nicht-professionellen Musikern spielen für Verpflegung, Bier und 50 Franken oder so. Doch davon kann man nicht leben», sagt Ringli. «Vielleicht werden diese Kurse die ganze Szene verändern, doch es ist noch zu früh, um das einzuschätzen.»
Gleichzeitig gibt es auch viele Erwartungen, was solche Kurse bringen könnten. «Es ist super», sagt Jodlerin Nadja Räss. «Wenn man ins Ausland blickt, gibt es in Österreich oder Skandinavien viel mehr Volksmusik im Alltag. In Finnland ist es bereits seit 20 Jahren möglich, Volksmusik zu studieren. Jetzt haben wir die Möglichkeit, in Luzern zu studieren. Vielleicht werden wir in 20 Jahren wie Finnland sein.»
Jodeln und Alphornblasen werden gemeinhin mit der Schweiz in Verbindung gebracht, doch keine der beiden Ausdrucksformen ist ausschliesslich schweizerisch.
Es wird vermutet, dass bereits in der frühen Steinzeit gejodelt wurde und das Jodeln auch ausserhalb der Schweiz eine lange Tradition hat – beispielsweise in Polen. In der Schweiz soll es sich aus einer Art Kommunikation über lange Distanzen und den Rufen zum Zusammentreiben der Kühe entwickelt haben.
Das Alphorn war ursprünglich ein Ruf- und Signal-Instrument. Es wurde erstmals Ende des 18. Jahrhundert dazu benutzt, Musikstücke zu spielen.
Zu den weiteren traditionellen Musikinstrumenten der Volksmusik gehören Schwyzerörgeli (eine spezielle Handorgel), Hackbrett, Maultrommel (Trümpi), Klarinette und Kontrabass.
(Quelle: Swissworld.org)
Zurück zu den Wurzeln
Räss gibt auch eigene Kurse. Sie bringt Kindern, Geschäftsführern und Managern in Wochenlagern das Jodeln bei, als eine «Art der Kommunikation». Es sei ein Teil einer Bewegung, die zurück zu den Wurzeln gehe. Und das nicht nur in der Musik, betont sie.
Diesen Trend hat auch Ringli beobachtet. Vor 30 Jahren habe «absolut» niemand in den Städten Volksmusik gehört – «die gesamte linke Szene fand diese Musik schrecklich» –, doch in den letzten 15 Jahren habe sich das verändert.
«Die Leute hörten sich Volkslieder aus aller Welt an und fragten sich, ob es in der Schweiz nicht etwas Ähnliches gebe. Diesen Trend kann man auch in anderen Bereichen feststellen – zurück zu lokalen Traditionen. Zum Beispiel beim Bier. Vor zwanzig Jahren trank man Bier aus allen Winkeln der Welt, heute wird fast in jedem Dorf ein lokales Bier gebraut. Dieser Trend ist auch in der Musik feststellbar.»
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben Volksmusiker bereits Stücke aus der Schweiz und aus dem Ausland gespielt, aber in einem «speziellen, lokalen Stil», so Ringli. «Heute versuchen eine Menge junge Leute, diese älteren Stile wiederzuentdecken. Doch sie spielen sie nicht wie vor hundert Jahren. Die Leute sind heute technisch versierter. Einige spielen wie früher, andere versuchen, den Stil mit zeitgenössischen Sounds und Spielarten zu mischen.»
Räss ist eine der Musikerinnen, welche die alten Archive durchforsten. «Ich höre mir alte Aufnahmen ganz genau an. Im Jodeln brauchen wir heute oft ‹yu› und ‹yo›. Vor hundert Jahren brauchten sie ‹e›, ‹eh›, ‹a› und ‹eu›, das sind ganz andere Vokale, die interessanter zu singen sind. Für mich sind diese alten, aber trotzdem neuen Vokalisierungen sehr interessant.»
Viele der heutigen, jungen Volksmusiker empfinden die strikten Regeln der Volksmusik-Organisationen als Zwangsjacke für ihre Kreativität. «Ich denke aber, wir bewegen uns in eine gute Richtung», betont Räss. «Es gibt die traditionelle Art, Volksmusik zu machen sowie die Möglichkeit einer freieren Nutzung der Volksmusik.»
Simon Dettwiler von «Pflanzplätz» ist der Meinung, «Volksmusik in der Schweiz war zu jeder Zeit interessant. Natürlich interessiert sich das Publikum heute stärker dafür. Doch ob sie interessanter als vor hundert Jahren ist, weiss ich nicht».
(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
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