Von Beruf Deutscher
Seit Jahren beobachtet der Deutsche Jens Wiese das Leben in der Schweiz. Seine Erfahrungen macht er in einem Blog allen Interessierten zugänglich. Mokieren will er sich über die Schweizer nicht, auch wenn es manchmal so tönt.
Vor sieben Jahren kam der 44-jährige Jens-Rainer Wiese mit seiner Familie in die Schweiz. Schon bald begann er, seine Beobachtungen, Erlebnisse sowie Redewendungen und Helvetismen, die ihn faszinierten, aufzuschreiben.
Später kam die Fotografie dazu. Das Material häufte sich. Bis ihm jemand sagte: «Mach doch einen Blog!» Was er dann auch tat. So entstand 2005 die «Blogwiese».
Das öffentliche Tagebuch war gedacht als Starthilfe für Deutsche und Freunde, die im Sinne hatten, in die Schweiz zu kommen. Irgendwann wurde der Blog auch von Schweizern entdeckt, Presse und Radio berichteten darüber, Jens-Rainer Wiese wurde ins Fernsehstudio geladen, wenn es ums Thema «Deutsche in der Schweiz» ging. Er avancierte zum «Kulturexperten», zum «Prototyp des Deutschen in der Schweiz». Heute nennt er sich gerne auch «Berufsdeutscher».
Der aufmerksame Beobachter
Die Einträge des deutschen Bloggers sind pointiert und witzig geschrieben. Der Wahlschweizer spitzt zu und provoziert, was ihm auch schon gehässige Reaktionen eingebracht hat.
Zum Beispiel als er beim Tabu-Thema «Sturmgewehr im Schrank» beschrieb, wie das für ihn war, als ihm am Wochenende einer auf dem Fahrrad begegnete mit einer Knarre am Rücken. «Ich fragte mich, ob der so auf die Bank geht und sein Geld abholt.» Bei diesem Thema seien die Emotionen sehr hoch gegangen, sagt Wiese.
«Die negativen Kommentare bewegen sich allerdings im Promillebereich. Am heftigsten verteidigt wird die Schweiz von Secondos, aber auch von Deutschen, die seit Jahrzehnten hier leben.»
Im Allgemeinen aber seien die Reaktionen positiv. «Die Schweizer können auch über sich lachen. Und ich versuche natürlich, mich nicht lustig zu machen und mache auch Bemerkungen über die Deutschen.»
Der Beobachter aus dem Norden liebt die kleinen Geschichten, er hinterfragt Redewendungen, will wissen, woher die kommen. Er ist ein Mensch, der auch nach sieben Jahren noch mit «offenen Augen und Ohren durch die Schweizer Welt geht», wie er selber sagt.
In seinen Posts thematisiert Wiese zum Beispiel die unterschiedlichen Kommunikationsformen zwischen Schweizern und Deutschen: «Am Telefon fragt der Schweizer: ‹Sind Sie noch da?› Der Deutsche möchte da antworten: ‹Nein, ich bin geplatzt› oder ’nein, Sie sprechen mit meinem Anrufbeantworter›.»
Kampf den Klischees
Solche Floskeln müsse man lernen, um nicht anzuecken, sagt Wiese. Frage man in Zürich einen Polizisten nach dem Weg zum Bahnhof, sei das ein Ritual mit Begrüssung, gefolgt von einer höflichen Anfrage und den Wünschen für einen schönen Tag. In Hamburg heisse das schlicht und direkt: «Tag! Wo geht es denn hier zum Bahnhof?»
Solches Verhalten sei mit ein Grund, dass die Deutschen von Schweizern als zackig, unhöflich und arrogant empfunden würden. «Zehn von zehn befragten Schweizern sehen den Deutschen als Ballermann, als arrogant und laut.» Die Schweizer hätten das Image, unbeholfen und nicht eben wortgewandt zu sein.
Diese Vorurteile beschäftigen den Norddeutschen. Gegen solche Klischees kämpft er an. Für ihn ist klar, dass dies mit der Sprache zu tun hat. «Während der Deutsche schnell und eloquent Standarddeutsch spricht, musste der Schweizer diese Sprache mühsam in der Schule lernen.»
Deutsch gehört nicht den Deutschen
Für die Deutschen sei Dialekt Privatsache, sagt Wiese. «Das spricht man zu Hause mit den Eltern, mit Grosseltern und Freunden. Kommt ein Fremder, schaltet man auf Standard. Schweizer hingegen bezeichnen Hochdeutsch als Fremdsprache.»
Für Jens-Rainer Wiese ist Deutsch eine Sprache mit vielen Varianten, die in Deutschland, Österreich, der Schweiz, im Süden Belgiens und im Südtirol gesprochen werde. «Deutsch gehört nicht den Deutschen!»
Und die Schweizer müssten sich für ihr Hochdeutsch nicht schämen, auch nicht für jenes, das ihre Politiker sprechen. «Peinlich finden es nur die Schweizer selber. Das hat wohl mit einem versteckten Minderwertigkeitskomplex zu tun», so Wiese.
Beim Fussball wird’s heftig
Mit den gängigen Klischees über Deutsche hat Jens-Rainer Wiese gelernt zu leben. Wenn man sich einigermassen höflich benehme, gebe es keine Ressentiments. «Alle sind nett und freundlich. Man kann hier wunderbar leben.»
Er kenne nur eine Situation, wo’s richtig heftig werde. Beim Fussball! «Bei der WM 2006 hatten wir unser Auto mit der deutschen Flagge geschmückt. Da kamen plötzlich Ressentiments und Hass auf. Meine Frau wurde auf der Autobahn abgedrängt.»
Viele Deutsche in der Schweiz seien völlig schockiert gewesen über diese negativen Reaktionen. Wiese begründet diese mit einem Klein-Gross-Komplex. «Da kommt etwas zum Vorschein, was sonst unter dem Deckel bleibt.»
swissinfo, Gaby Ochsenbein, Bülach
Gemäss Ausländerstatistik per Ende 2007 sind von den gut 7,5 Mio. Einwohnerinnen und Einwohnern 1,57 Mio. Ausländer. Das sind 20,7%.
Mehr als 200’000 oder 12,9% aller Ausländer stammen aus Deutschland.
Deutschland steht damit nach Italien (18,43%) an 2. Stelle, gefolgt von Serbien (11,6%) und Portugal (11,6%).
Rund 40’000 deutsche Staatsangehörigen kamen 2007 in die Schweiz, etwa 10’000 haben sie verlassen.
2007 haben 1361 Deutsche das Schweizer Bürgerrecht erworben.
2006 waren es 1134.
Seit August 2007 können die Deutschen Doppelbürger sein. Seither haben die Gesuche um die Schweizer Staatsbürgerschaft markant zugenommen.
Die Schweiz ist in den letzten Jahren zum beliebtesten Auswanderungsziel für Deutsche geworden.
Über die Hälfte der in der Schweiz wohnhaften Deutschen sind Führungskräfte oder Akademiker.
Stammt aus Gelsenkirchen im Ruhrgebiet.
Der 44-jährige Deutsche lebt mit Frau und Tochter seit sieben Jahren in Bülach, einer Kleinstadt im Zürcher Unterland.
Von Beruf ist er Französisch- und Deutschlehrer.
Zur Zeit arbeitet er als IT-Consultant bei einer Firma in Zürich.
Am 1. September 2005 startete Jens-Rainer Wiese sein Internet-Tagebuch «Blogwiese». Darin schrieb er fast jeden Tag einen Artikel (Post) über seine Erlebnisse und sprachlichen Entdeckungen.
Im Sommer 2007 beendete er den Blog vorübergehend. Heute bloggt er nur noch, wenn etwas Wichtiges passiert. Zudem aktualisiert er frühere Postings.
Bislang hat er über 700 Beiträge verfasst, registriert wurden insgesamt 600’000 Besucherinnen und Besucher sowie 15’000 Kommentare.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch