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Von Dada zu konkreter Kunst: Als Zürich ein Kampfplatz der Moderne war

Quadrate mit unterschiedlichen Farbstreifen
"Ohne Titel" (1979), von Verena Loewensberg. Die Künstlerin, die zu den Pionier:innen der konkreten Kunst gehört, stand lange Zeit im Schatten ihrer (männlichen) Kollegen, die sich selbst besser vermarkten konnten. Jetzt wird Loewensbergs Werk wiederentdeckt. Sik-Isea Schweizerisches Institut Für Kunstwissenschaft

Ein neues Buch über die Pionier:innen des Konkretismus schliesst eine Lücke in der Geschichte der international einflussreichsten Schweizer Kunstbewegung des 20. Jahrhunderts. Mitautor Thomas Haemmerli erklärt, wie das Buch den Beitrag dieses Kunststils zum Aufstieg der weltbekannten Schweizer Grafikdesign-Schule würdigt.

Thomas Haemmerli gesteht, dass er die konkrete Kunst früher gehasst hat. Der 1964 geborene Haemmerli gehört zur Generation der radikalen Jugendlichen, die in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren in Zürich auf die Strasse gingen – die verspätete Antwort der Schweiz auf die Jugendrevolutionen, die in den 1960er-Jahren weite Teile der Welt ergriffen.

Die Zeiten haben sich geändert, und heute ist der ehemalige Aktivist als humorvoller Dokumentarfilmer bekannt. Zusammen mit der Kunstkritikerin Brigitte Ulmer ist er auch Autor von «Kreis! Quadrat! Progress! Zürichs konkrete Avantgarde», einer umfassenden Neubewertung der einflussreichsten Schweizer Kunst- und Designbewegung des 20. Jahrhunderts, deren Wirkung bis in die heutige Zeit anhält.

Ein Buchcover
Das auf Englisch und Deutsch erschienene Buch füllt eine Lücke in der Literatur zum Konkretismus. Scheidegger & Spiess, Zurich

Am häufigsten wird die Bewegung mit dem Universalkünstler Max Bill in Verbindung gebracht. Doch dessen herausragende Bekanntheit – die er auch dank seines Talents zur Selbstdarstellung erlangte – stellte andere bedeutende Künstler:innen in den Schatten.

Ulmer und Haemmerli stellen drei von ihnen gleichberechtigt vor, Camille Graeser, Verena Loewensberg und Richard Paul Lohse, und erweitern damit das Spektrum der Betrachtung.

Die Literatur über die Bewegung ist spärlich, sagt Haemmerli. Umfassende Studien wurden nur auf Spanisch und Französisch veröffentlicht. Das Buch von Haemmerli und Ulmer in deutscher und englischer Sprache wurde am 20. November in der «Architecture Association School» (AA) in London offiziell vorgestellt.

Ein passender Ort: Der Einfluss der Konkreten Kunst, der sich auf Architektur, Typografie, Fotografie und vor allem Grafikdesign erstreckt, ähnelt dem des Bauhauses, wo Bill in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts studierte.

Ein Mann und eine Frau
Thomas Haemmerli und Brigitte Ulmer. Felix von Muralt

Von der Avantgarde zum Universellen

Neben dem Einfluss des Bauhauses übernahmen die Konkreten die Formen, Ideen und Praktiken der «De Stijl»-Bewegung und des sowjetischen Konstruktivismus der 1920er-Jahre und verschmolzen sie zu einer neuen künstlerischen Richtung in der neutralen Schweiz. Zu einer Zeit, als im übrigen Europa der Zweite Weltkrieg tobte.

Nach dem Krieg wurde das Schweizer Grafikdesign Weltklasse, sagt Haemmerli. “Ein alter deutscher Grafiker erzählte mir, dass seine gleichaltrigen Kollegen nach der Zerstörung des Kontinents grösstenteils tot waren oder es keine Kunstgewerbeschulen mehr gab, um Fähigkeiten zu erlernen und weiterzuentwickeln, während die Kunstgewerbeschulen in der Schweiz nicht nur gut waren, sondern den Krieg auch unbeschadet überstanden hatten.“

Die Gründerinnen und Gründer der Zürcher Schule der Konkreten, angeführt von Bill, entwickelten künstlerische Richtlinien im Sinn der Avantgarden des frühen20. Jahrhunderts.

Wie die Dada-Bewegung, die 1916 ebenfalls in Zürich entstand, wollten die Konkreten die bürgerlichen Vorstellungen von Schönheit und gutem Geschmack in Frage stellen.

In den Nachkriegsjahren verbreitete sich ihr Ruf in den USA, Japan und Lateinamerika. Es dauerte nicht lange, bis die Konkreten zum Synonym für das Establishment wurden, ihre Kunst war in Galerien, dann in Zeitschriften und schliesslich in den Wartezimmern von Zahnarztpraxen allgegenwärtig.

Sie wurden auch zu einem Objekt der Verachtung für jüngere, radikalere Generationen wie die von Haemmerli.

>> Aus den Archiven des Schweizer Fernsehens: Die Feier zum 60. Geburtstag von Max Bill im Kunsthaus Zürich, 1968:

SWI swissinfo.ch: Bis zu ihrer internationalen Bekanntheit wurden die Zürcher Konkreten in der Limmatstadt nicht wirklich geschätzt.

T.H.: Der damalige bürgerliche Geschmack liebte Nachahmungen der klassischen Kunst und hatte die Vorstellung, dass gute Kunst erbaulich sein müsse.

Als die Konkreten in den 1930er-Jahren begannen, wurden sie von der Bourgeoisie, die nicht verstand, was sie da taten, scharf angegriffen.

Und dann kam der Faschismus. Erinnern Sie sich daran, dass die Nazis die moderne Kunst sehr energisch bekämpften, was 1937 in der Ausstellung «Entartete Kunst» gipfelte. Ein grosser Teil des Schweizer Bürgertums sympathisierte mit dieser Haltung. Aber auch von links kam Kritik.

Bestärken diese Haltungen die Vorstellung, dass die Schweiz ein sehr konservatives Land ist, sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite?

Dadaistisches Heft
Das ist Dada: «ABCD» (Raoul Hausmann,1923) The Granger Collection, New York

Ich würde Ihnen vollkommen zustimmen, wenn Sie davon sprechen, dass die Arbeiterbewegungen ausländerfeindlich waren.

Aber die Reaktion gegen die moderne Kunst war etwas, das die Linke in ganz Europa einte, sowohl den Stalinismus als auch die Sozialdemokratie.

Ein gutes Beispiel dafür ist der 1933 erschienene, sehr eigenartige Roman eines Psychiaters und sozialdemokratischen Politikers aus Zürich, «Geschmeiss um die ‹Blendlaterne›, ein Schlüsselroman», der die Dadaistinnen und Dadaisten angreift.

Der Autor, Charlot Strasser, hasste sie wirklich, weil sie diese verrückten Gedichte machten, diese verrückte Kunst. Sie nahmen Drogen. Sie waren Fremde.

Er behauptete sogar, dass sie mit Waffen handeln würden. Sie waren echte Bohemiens, und ein grosser Teil der Arbeiterbewegung lehnte die Bohemiens strikt ab.

Aber die Konkreten waren überhaupt keine Bohemiens. Ihre Kunst verwirrte die Arbeiterbewegung, die nicht wusste, was sie mit all den Quadraten und Kreisen anfangen sollte.

>> Aus den Archiven des Schweizer Fernsehens: Max Bill erklärt seine Werke (1968):

Die Konkreten waren einheimische Künstlerinnen und Künstler, während die Dadaistinnen und Dadaisten meist aus dem Ausland kamen und die Schweiz nach dem Krieg verliessen. Sie argumentieren, dass die Dadaistinnen und Dadaisten und die Konkreten einander nicht völlig feindlich gegenüberstanden.

Darüber sind sich viele Leute nicht einig. Hier in Zürich sind wir an diese Unterscheidung gewöhnt. Auf der einen Seite die Dada-Bewegung: Ausländerinnen und Ausländer, schwul, katholisch und feierwütig, Bohemiens, die Drogen nahmen, und so weiter.

Auf der Vorderseite einer 50-Franken-Note ist die Künstlerin Sophie Taeuber-Arp abgebildet
Sophie Taeuber-Arp auf der 50-Franken-Note der achten Banknotenserie der Schweizerischen Nationalbank (1995-2021). Die Schweizer Schule für Gestaltung ist zu einer nationalen Institution geworden. Keystone / Gaetan Bally

Und auf der anderen Seite die Konkreten, die protestantisch, nüchtern und sehr rational waren.

Aber diese Unterscheidung war nicht schwarz-weiss. Max Bill hat einmal einen Text geschrieben, in dem er sagt, dass es einen regen Austausch gab.

Der Kern der Dadaistinnen und Dadaisten stammte aus dem Ausland, aber es waren auch einige Schweizerinnen und Schweizer dabei. Die wichtigste unter ihnen war Sophie Taeuber-Arp.

Warum ist sie so wichtig?

Sie war Lehrerin an der Kunstgewerbeschule und hat schon sehr früh in ihrer Karriere geometrische Arbeiten gemacht, nicht nur gemalt, sondern auch gewebt.

Zur gleichen Zeit tanzte sie auf Dada-Soirées. Das musste sie verkleidet tun, um ihren Job an der Schule nicht zu gefährden. Für kurze Zeit war sie auch die Lehrerin von Max Bill.

[Der holländische Künstler] Theo van Doesburg, der den Begriff “Konkrete Kunst“ prägte, gehörte ebenfalls der geometrisch orientierten «De Stijl»-Bewegung an und benutzte manchmal sogar ein dadaistisches Pseudonym.

Er war also beides. Und es gibt viele andere, deren Kunst und Haltung nicht durch diese Einteilung definiert wurden.

Eine Frau mit Zigarette
Künstlerin, Jazzliebhaberin, alleinerziehende Mutter, Alleinverdienerin: Verena Loewensberg (1954). Eva Simon, Brüssel

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sophie und Hans Arp als Brücke zwischen diesen beiden Seiten fungierten. Sophie Taeuber-Arp ist vor kurzem «wiederentdeckt» worden. Bis vor ein paar Jahren war sie in der grossen Erzählung der Moderne nur die Frau von Hans Arp. Aber sie war, wie Sie sagen, viel bedeutender für diese Brücke als Hans Arp.

Auf jeden Fall! Sie war viel wichtiger und interessanter. Aber in den 1970er-Jahren, als feministische Wissenschaftlerinnen begannen, die Werke von Künstlerinnen neu zu bewerten, hatten sie die Vorstellung, dass es einen spezifischen nicht-männlichen Blick und eine nicht-männliche Art gibt, die Welt zu betrachten.

Und dass diese weich und rund und so weiter sein müsse und nicht zu rational sein dürfe.

So wurden viele Künstlerinnen, die geometrisch arbeiteten, nicht in die grossen Entdeckungsausstellungen integriert, weil man ihnen vorwarf, den Feind zu umarmen.

Das geschah auch mit Verena Loewensberg. Sie wurde als eine männliche Künstlerin betrachtet und nicht als “weiblich“ angesehen.

Verena Loewensbergs Kurven brachten sie weiter als ihre quadratischen Kolleginnen und Kollegen der Konkreten - zur Pop Art und Op Art. Ohne Titel, 1969.
Verena Loewensberg Stiftung, Zürich

Editiert von Catherine Hickley / gw, Übertragung aus dem Englischen: Petra Krimphove / cr

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