Von den Rolling zu den Stones
Am Donnerstagabend kamen die Rolling Stones zu einem "Gastspiel" ins Zürcher Fussballstadion Letzigrund.
Trotz der exorbitanten Preise strömten die Fans ans Konzert, und die Nostalgie feierte Urstände.
Seit bekannt war, dass die Stones auch in Zürich aufspielen, vielleicht zum letzten Mal, überboten sich die Medien mit Geschichten und Geschichtlein über die Zeiten dieser britischen Band, die es nun schon rund 40 Jahre gibt.
Es wurden Archive geplündert, Zeitzeugen gesucht. Zahlreich waren die Versuche, den Mythos Rolling Stones zu ergründen. Dabei ging das Boulevardblatt «Blick» gar einem freischaffenden Journalisten auf den Leim und druckte ein gefälschtes Interview mit Bandleader Mick Jagger.
Die Vorzüge der Sixties
Warum spielt eine Band, deren Mitglieder die 60 schon überschritten haben, immer noch vor vollem Haus? Warum gelten Musiker, die einst als «böse Buben» verschrien waren, als etabliert und ziehen immer noch die Massen an, auch wenn sie ihren Zenit schon längst überschritten haben?
Der Antworten wird es viele geben. Sie dürften allesamt damit zu tun haben, dass die Rolling Stones immer noch eine Zeit verkörpern, die heute im Begriff ist, verklärt zu werden: die Sixties, die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts.
Tatsache ist, dass die Jahre von 1960 bis 1969 durchaus einige Vorzüge hatten, die es heute so nicht mehr gibt: Es herrschte Hochkonjunktur, Arbeitslosigkeit war ein Fremdwort – ja, es herrschte gar Arbeitskräftemangel. Das Wort Aufschwung kannte man höchstens vom Turnunterricht, weil man ihn an der Reckstange üben musste.
Die Zeiten waren – verglichen mit heute – tatsächlich verklemmt. Rigide Moralvorstellungen beherrschten den Alltag. Aber es gab keine Immunschwäche-Krankheit Aids. Die Sexualität konnte freier und unbekümmerter angegangen werden. Dies erstmals ohne Angst vor unerwünschten Schwangerschaften: Die Pille war erfunden.
So gesehen konnte man den Aufbruch wagen, die verkrusteten Strukturen und Zwänge der Altvorderen aufbrechen. Niemand verlor deswegen seinen Job. Keine und keiner kam in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Auch dann nicht, wenn er mal eine gewisse Zeit gar nichts tat und nach Indien trampte.
Probleme, die schon in den 60ern zu erkennen waren, wie Umweltverschmutzung, Energieverschwendung, Terrorismus und Arbeitslosigkeit, sollten erst in den kommenden Jahrzehnten aufbrechen. Auch der Vietnamkrieg war weit weg und berührte die Schweiz kaum.
Die musikalische Untermalung
Diese aus heutiger Sicht unschuldige Zeit musste nur noch entsprechend musikalisch untermalt werden. Erstmals war – dank Transistor, Plattenspieler und Tonbandgeräten – Musik überall konsumierbar.
Die Vorgaben kamen aus den USA. Dort war man zehn Jahre im Vorsprung, und mit dem «Rock and Roll» hatte die Jugend dort ihre ersten Ausbruchsversuche bereits hinter sich.
So drangen denn die ersten aufmüpfigen Töne aus den USA in die Schweiz. Die eigentliche Invasion aber sollte aus England kommen. Dort hatten im Sog der Beatles unzählige Gitarrenbands die Vorgabe aus den USA auf ihre Weise umgesetzt: Die Beatmusik eroberte die Welt.
In der Schweiz allerdings tat sie sich anfänglich schwer. Das monopolartige Schweizer Radio ignorierte die Beatmusik aus England ziemlich konsequent.
Die ersten Töne der Rolling Stones mussten wir uns via Kurz- Mittel- oder Langwelle aus dem Ausland besorgen. Doch schnell einmal merkte man: Dieser stampfende R&B war anders als die swingenden Töne des Merseybeats. Die Rolling Stones spielten, wie sie aussahen: frech und grimmig.
Beatles contra Rolling Stones
Die ersten Hits der Rolling Stones «Come on» und das von den Beatles geschriebene «I wanna be your man» oder Buddy Hollys «Not fade away» wurden in der Schweiz noch kaum wahrgenommen.
Erst mit «It’s all over now» (das Original stammt aus den USA von den Valentinos) wurden die Rolling Stones zum Thema. Zum Durchbruch brauchte es aber die Welthits «The last time» und «Satisfaction».
Da aber die Beatles die Szene beherrschten, schafften es die Rolling Stones «nur» auf Platz zwei. Unter den Fans entstand ein Wettstreit. Während die Beatles uns weismachen wollten, dass 20-Jährige mit ihren Mädchen Händchen halten wollen («I wanna hold your hand»), hielten es etliche doch eher mit den Rolling Stones, die fanden «ich bin frei und tue was ich will» («I’m free»).
Die eloquenten Beatles sprachen eher den Intellekt an. Dazu konnten sie mehrstimmig singen. Die Rollenden Steine galten als böse, unbequem und roh. Für unsere Eltern waren sie die Personifizierung des Teufels.
Das Machogehabe eines Jaggers oder die Drogeneskapaden der ganzen Band – die Sängerin und Jagger-Freundin Marianne Faithfull hätte diese fast mit ihrem Leben bezahlt – wurden noch als interessant empfunden.
Dass die Welt so auch nicht zu verändern war, wurde vielen erst später klar. Da waren die Rolling Stones aber schon die Stones und gehörten zum Establishment.
Die Legende Hallenstadion
Die Rolling Stones hatten ihren ersten Auftritt auf dem Kontinent in der Schweiz. 1964 traten sie im Rahmen der TV-Sendung «Die Goldene Rose» in Montreux auf. Möglich machte dies ein mittlerer Angestellter im Verkehrsbüro namens Claude Nobs, heute Chef des Jazz-Festivals in Montreux.
Am 15. April 1967 dann der Höhepunkt für die Schweizer Pop-Musikszene von damals. Die Rolling Stones traten im Hallenstadion Zürich auf.
Um das Konzert ranken sich heute Legenden. Dabei weiss gar niemand, wie und was die Rolling Stones genau spielten. Denn die brüllende und kreischende Menge übertönte die unzulängliche Verstärkeranlage um ein Vielfaches.
Nach einer halben Stunde war der Spuk vorbei. Der Frust war gross und wohl deswegen – und weniger aus Rebellion – gingen einige Stühle in Brüche. Zwar geriet der Kessel ins Kochen, überlaufen sollte er aber erst ein Jahr später. Im Mai 68 – nach dem Konzert von Jimi Hendrix – kam es zu Krawallen und Ausschreitungen.
Das Unternehmen «Stones»
Die Rolling Stones befanden sich zu dieser Zeit mit Drogen- und Alkoholexzessen bereits auf dem absteigenden Ast.
Der Tod von Gitarrist Brian Jones und das berüchtigte Konzert in Altamont (schon mit dem neuen Gitarristen Mick Taylor), wo ein pistolenbewehrter Zuhörer von den Ordnungskräften erstochen wurde, markierten Tiefpunkte.
Doch der Neubeginn war eingeleitet: Das Gratiskonzert im Mai 69 im Hyde Park in London und die Gründung des eigenen züngelnden Plattenlabels.
Leadsänger Mick Jagger nahm das Heft und die Finanzen in die Hand, und fortan wurden die Rolling Stones, die sich immer mehr nur noch Stones nannten, zum Unternehmen. Obwohl etliche Male totgesagt, meldeten sie sich immer wieder mit mittlerem Erfolg und immer grösseren Touren zurück.
So hielten sich die Stones im Gespräch – Jagger heiratete ab und zu – und wurden immer mehr zum Mythos. Zur Antenne zurück in eine Zeit, die sie mal geprägt hatten, und von der wir jungen Leute von damals geprägt wurden.
Musikalisch hatten längst andere das Szepter übernommen. Die Dinosaurier des Rock beherrschten die Szene mit ellenlangen Gitarrensoli und zunehmend aufwändigeren Bühnenshows.
Die Stones wurden für sich allein ein Markenzeichen. Die Musik veränderte sich in all den Jahren nur unwesentlich. Die markanten Typen aus der Urzeit, Mick Jagger, Keith Richards und Charlie Watts spielen immer noch ihren treibenden R&B. Machen auf jung und ziehen die Massen an wie eh und je und basteln damit emsig weiter an ihrem Mythos. Denn alle wollen immer erklären, warum das so ist.
swissinfo, Urs Maurer
Die Urformation der Rolling Stones: Mick Jagger, voc (1943), Keith Richards, g (1943), Brian Jones, g (1942), Bill Wyman, b (1936) und Charlie Watts, d (1941).
Brian Jones starb 1969, und Bill Wyman zog sich 1993 zurück.
Nach dem legendären Konzert 1967 kamen die Stones noch etliche Male in die Schweiz:
1972 zu Proben für die US Tour 72 nach Montreux.
Am 25. und 26. September 1973 gaben sie gar drei Konzerte in der Berner Festhalle.
Dann wurde Mick Taylor durch Ron Wood ersetzt und mit ihm kam es 1976 zum zweiten Auftritt im Zürcher Hallenstadion.
1983 dann das erste Freiluftkonzert. Völlig verregnet traf man sich im Fussballstadion St. Jakob in Basel.
1995 gab es zwei weitere Konzerte im Joggeli in Basel.
Das vorläufig letzte Konzert der Stones in der Schweiz datiert vom 9. Juli 1998. Die Stones spielten auf der Grossen Allmend in Frauenfeld im Kanton Thurgau.
Am 2. Oktober 2003 treten die Stones im Letzigrund in Zürich auf. Eintrittspreise zwischen 100 und 250 Franken.
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