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Von Fenstern, Ornamenten und Schildkröten in Kairo

Ausstellungsplakat an der Eingangstür im Townhouse Kairo. Susanne Schanda

Was Schweizer Kunstschaffende in Ägypten und ägyptische Künstler in der Schweiz entdecken und erarbeiten, öffnet die Augen gerade bei der lokalen Bevölkerung. Die Ausstellung "Where Are You?" in Kairo hinterfragt Standpunkte, Sehgewohnheiten und Denkmuster.

Kunst scheint sich in Kairo nur mit Mühe behaupten zu können. Als ob in der Überfülle von Menschen, Dingen, Mustern, Klängen und Gerüchen des Alltags kein Platz wäre für noch mehr.

Das Schweizer Künstlerpaar Chalet5, Guido Reichlin und Karin Wälchli haben sich gerade diese Fülle zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit gemacht.

In der Ausstellung «Where Are You?» in Kairo werden die Besucherinnen und Besucher als erstes mit einem Wandobjekt auf Augenhöhe konfrontiert, das aus einem roten Querbalken besteht, von dem schwarze Metallgebilde spitz nach vorne ragen, aggressiv auf den Betrachter gerichtet.

Bei der Eröffnung der Ausstellung fragte Guido Reichlin namentlich die Besucher aus Kairo, ob sie das Objekt erkennen würden. Niemand wollte das je zuvor gesehen haben.

Bis der Künstler erklärte, dieses Objekt sei die wirklichkeitsgetreue Nachbildung der Dekoration über dem Eingang einer bekannten Buchhandlung in der Sherif-Strasse von Downtown Kairo.

Augen auf

«In diese Buchhandlung gehe ich mindestens einmal im Monat, aber das Gebilde ist mir noch nie aufgefallen», sagte eine Besucherin verblüfft.

«Wir haben das Objekt auf Augenhöhe runtergenommen und aus dem Alltagskontext in den Ausstellungsraum geholt, das ist die einzige Veränderung zur realen Situation», sagt Reichlin.

2006 kam er zusammen mit Karin Wälchli zum ersten Mal nach Kairo, wo Pro Helvetia dem Künstlerpaar aus Zürich für drei Monate eine Atelierwohnung zur Verfügung stellte. Seither sind sie mehrmals zurückgekommen und haben weiter gearbeitet.

«Das Ornament ist seit langem das Hauptthema unserer Kunst. Hier in Kairo, wo sich an jeder Strassenecke zwei- und dreidimensionale Ornamente finden, haben wir dieses Thema für uns abgearbeitet und neu erfunden, gleichzeitig aber mit unseren Arbeiten den Einheimischen einen neuen Blick auf ihre eigene Stadt ermöglicht», sagt Reichlin.

Von Kairo inspirierte Arbeiten des Künstlerpaars Chalet5 wurden dieses Jahr bereits in der Ausstellung «Traum und Wirklichkeit» im Zentrum Paul Klee in Bern und im Haus für Kunst Uri («Im Schatten der Pyramiden») gezeigt.

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Pro Helvetia

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia ist eine Stiftung öffentlichen Rechts. Ihr Auftrag: Förderung kultureller Bestrebungen von gesamtschweizerischem Interesse. Die Stiftung soll Schweizer Kulturschaffenden die bestmöglichen Bedingungen für die Entstehung und Verbreitung ihrer Werke schaffen sowie ihnen im In- und Ausland zu einem überzeugenden Auftritt verhelfen. Ihr Jahresbudget von rund 33 Millionen Franken wird vollumfänglich vom…

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Klingende Stadtlandschaften

Die Berner Künstlerin Maia Gusberti, von der zur Zeit Fotoarbeiten im Helmhaus in Zürich zu sehen sind, hat sich in der ägyptischen Hauptstadt ebenfalls mit dem urbanen Raum auseinandergesetzt.

Während mehreren Aufenthalten über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg ist ihre Videoarbeit «C.Scapes» entstanden, die architektonische und gesellschaftliche Aspekte des öffentlichen Raums in Kairo erforscht, dessen Möglichkeiten, Grenzen und Widersprüche.

Gefilmt von Hausdächern oder aus Fenstern von Privatwohnungen, ergänzt durch Aussagen von Einwohnerinnen und Einwohnern über ihr Verhältnis zum öffentlichen Raum und unterlegt mit einer magischen Tonspur des ägyptischen Musikers und Soundkünstlers Mahmoud Refaat, erzeugt «C.Scapes» einen Sog, der übers Hören und Sehen hinaus weiter wirkt.

Dies zeigte sich auch in den lokalen Medien. Die unabhängige ägyptische Tageszeitung Al-Masri-al-Youm schrieb darüber: «Gusberti gibt ihrer Arbeit einen Grad von Abstraktion, der dem Publikum erlaubt, sich selbst mit dem Gesehenen und Gehörten in Beziehung zu setzen. Zwischen Bildern und Erzählungen kommt die Fantasie der Betrachter in Gang und lässt eigene Visionen des öffentlichen Raums entstehen.»

Die Löcher in den Theorien

Einen völligen anderen Ansatz vertritt der ägyptische Künstler Basim Magdy, der seit einem Studienaufenthalt in Basel 2002 abwechselnd in der Schweiz und in Ägypten lebt und arbeitet. «Der Aufenthaltsort hat keinen Einfluss auf meine Arbeit», sagt er provokativ.

So radikal, wie das klingt, ist es allerdings nicht gemeint. Selbstverständlich wirke seine Umgebung fortwährend und indirekt auf sein Leben und seine Arbeit ein, aber daraus ergebe sich kein fassbares Ergebnis.

«Meine Arbeit beschäftigt sich weder mit der Schweiz noch mit Ägypten, sondern mit dem Raum ausserhalb spezifischer Orte. Es geht um einen imaginären Raum zwischen Fiktion und Realität», erklärt Magdy, konkret um die Löcher in wissenschaftlichen Theorien.

In seinem Videofilm nimmt der Künstler nichts weniger als das Universum in den Fokus: «Das grosse Loch, über das wir kaum etwas wissen.» Die Fragen, Missverständnisse und absurden Erklärungen des Unerklärbaren, die er so generiert, bringt er in einem Bild auf den Punkt: Eine zusammengedrückte Weltkugel, die auf dem Rücken einer Schildkröte liegt. Diese liegt auf einer weiteren Schildkröte und so fort: «Turtles all the way down».

Susanne Schanda, Kairo, swissinfo.ch

Die Ausstellung «Where Are You?» in Kairo präsentiert Arbeiten von Schweizer Künstlern, die während mehreren Monaten in Kairo gearbeitet hatten, oder von arabischen Künstlern aus Ägypten, Libanon und Jordanien, die ebenso lange in der Schweiz gelebt hatten, jeweils unterstützt von Pro Helvetia.

Die Künstler aus der Schweiz sind Davide Cascio, Guido Reichlin und Karin Wälchli, Maia Gusberti, Daniela Keiser, San Keller, Nadja Solari, Ingrid Wildi und Maurice Gajardo, Margot Zanni, Christoph Oertli und Alfred Zimmerlin.

Die arabischen Künstler sind Ziad Bitar und Nayla Dabaji, Pascal Hachem (Libanon), Alaa Younis (Jordanien) und Basim Magdy, Haytham Nawar, Hany Rashed, Ahmed el-Sawy (Ägypten).

Ausgewählt und zusammengestellt wurden die Arbeiten von der in Bern lebenden Kuratorin Beate Engel.

Die Kulturstiftung Pro Helvetia betreibt in Kairo seit 1988 ein Büro mit dem Ziel, Schweizer Kunst im arabischen Raum zu präsentieren und den Kulturaustausch zwischen der Schweiz und der Region zu fördern.

Das Büro stellt Schweizer Kunstschaffenden Ateliers in Kairo zur Verfügung und prüft Gesuche von ägyptischen Künstlern, die sich für einen Atelier-Aufenthalt in der Schweiz bewerben.

Ausserdem verwaltet die Konferenz der Schweizer Städte für Kulturfragen (KSK), der 17 Schweizer Städte angehören, seit 1991 drei Wohn- und Atelierplätze in Kairo.

Oft wirken die einmaligen Atelieraufenthalte als Initialzündung für eine andauernde Auseinandersetzung mit dem vorerst neuen Ort, führen zu wiederholten Besuchen und Kooperationen mit lokalen Künstlern.

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