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Kunst im Bombenkeller am Comicfestival Fumetto

Die Ausstellung "Shelter" in einem Bunker in Luzern dreht sich um Krisen und den menschlichen Umgang damit – und am Rande um Künstler, die nicht zu ihrer eigenen Ausstellung reisen können.

«Ich weiss noch nicht, was ich von der Schweiz halten soll», sagt Mohamed WahbaExterner Link. Sein Kollege, Ahmed HossamExterner Link, wird konkreter: «Luzern ist wunderschön. Aber so klein im Vergleich zu Kairo. Ich habe hier einen Buspass erhalten, aber bisher noch nicht benutzt», sagt er lachend. Es hat tatsächlich etwas Beschauliches, dieses Luzern, weit weg von allen Krisen der Welt. 

Die Stadt sei ein perfektes Puppenhaus, stellt jemand aus unserer Gruppe fest, die gemeinsam in die Zivilschutzanlage Sonnenberg hinabsteigt. Es klingt nicht wie ein Kompliment. Tatsächlich kontrastiert die perfekt herausgeputzte Stadt, Objekt zahlloser Smartphone-Fotos, mit dieser Ausstellung.

Bunkereingang
Der Eingang zur Ausstellung in der Zivilschutzanlage Sonnenberg in Luzern. swissinfo.ch

Der Ort dafür könnte passender nicht sein. Schon nach einigen Metern im Stollen stellt sich Beklemmung ein. Der riesige Bunker wurde in den 1970er-Jahren gebaut, für den Fall eines Krieges oder einer nuklearen Katastrophe. Dann geschah etwas sehr Schweizerisches: Der Ernstfall trat nie ein.

Stattdessen beherbergt der Bunker jetzt Kunst: Eine Ausstellung des internationalen Comicfestivals FumettoExterner Link, mit dem Titel «Shelter – von Krisen gezeichnet». Comic-Schaffende aus verschiedenen Ländern haben sich mit Krisen und der menschlichen Erfahrung darin auseinandergesetzt.

«Ein Riss geht durch die Welt»

Wir sind ein gutes Dutzend Leute, darunter einiger der Künstler, die durch die Gänge wandern. Kalt ist es und etwas gespenstisch. «Dieses Grün an den Wänden – das soll wohl beruhigend wirken, oder?», witzelt Carlos SpottornoExterner Link. Der spanische Fotograf und Reporter bereiste mit seinem Kollegen Guillermo Abril die Aussengrenzen der EU, ihr Buch heisst «Der RissExterner Link«.

Mann erklärt Bild
Der spanische Foto-Reporter Carlos Spottorno reiste für das Buch «Der Riss» («La Grieta») an die Aussengrenzen der EU: «Wir wollten, dass das Buch wirkt wie ein Film». swissinfo.ch

Aussicht aufs Meer
Ein Meer, ein Boot, ein Funkspruch. Ein Werk von Carlos Spottorno an der Bunkerwand. swissinfo.ch

Ein Riss gehe durch die Welt, durch Europa, sagt Spottorno. Er war auf einem Boot der Küstenwache im Mittelmeer, als eine Rettungsaktion durchgeführt wurde: «Heute sind wir uns diese Bilder gewohnt.» In Zeiten, in denen solche Dinge geschehen, dürfe man sich als Künstler nicht aus der Welt zurückziehen, ist er überzeugt. Das Meer, ein Boot, ein Funkspruch – Spottornos Bild hängt im Halbdunkel zwischen meterdicken Betonwänden, als stiller Zeuge einer nicht so fernen Katastrophe.

Zwei Blickwinkel, eine Geschichte

Dieselbe Geschichte aus anderer Perspektive erzählt Ahmed Hossam. Der Künstler aus Kairo arbeitete mit Mohamed Wahba sowie den Schweizer Kolleginnen Barbara Meuli und Julia Marti am gemeinsamen Buchprojekt «Border Crossing». Jemand versucht zu flüchten, erhält kein Visum, fährt übers Meer, stirbt. So erklärt er in ruhigen Worten sein Werk in einem fensterlosen Raum.

Comic erklären
Ahmed Hossam aus Kairo mit seinem Beitrag zum schweizerisch-ägyptischen Buchprojekt «Border Crossing». swissinfo.ch


Ausgesprochen viele Werke in «Shelter» befassen sich mit dem Thema Flucht, sowohl diejenigen der internationalen als auch der Schweizer Künstler. Ich frage mich, wie das zusammengeht. Der Schweizer Karikaturist Patrick Chappatte formuliert es so: «Wir kommen aus verschiedenen Ecken, treffen uns am gleichen Punkt. Schliesslich versuchen wir, dieselbe Geschichte zu erzählen.»

Kunst hinter Gittern

Den Ernstfall, gegen den die Schweiz stets gewappnet war und der nie eintraf, hat einer am eigenen Leib erlebt: Hamid Sulaiman.Externer Link Der Architekt und Künstler aus Damaskus verliess seine Stadt 2011, nach sechs Monaten Krieg und drei Aufenthalten im Gefängnis: «Ich dachte, ich wäre in ein, zwei Monaten zurück.»

Sein Graphic Novel «Freedom Hospital» handelt von einem fiktiven Spital in Syrien, in dem Menschen von sonst verfeindeten Gruppierungen aufeinandertreffen. Unrealistisch? So abwegig sei das nicht, meint der 32-Jährige: «Man hört Geschichten vom gemeinsamem Fussballspiel an der Front, nachdem man versucht hat, sich zu töten. Ich konnte es nicht glauben. Aber Krieg ist seltsam.»

Comics behind prison bars
Die Bilder des syrischen Künstlers Hamid Sulaiman hängen in einem der vergitterten Räume im Untergrund. swissinfo.ch

Sulaimans Bilder sind eindrücklich und voller Hoffnung; das Buch ist eine Collage aus persönlichen Erlebnissen und Anekdoten von Freunden, die zurückgeblieben sind. Treffend: Seine Werke hängen im Sonnenberg hinter Gittern von Zellen, die als Notgefängnis für die Luzerner Polizei bereitstehen.

Seine eigenen Motive sieht er kritisch. Manchmal nerve es, sagt Sulaiman, dass man hierzulande auf die eigene Krisenregion reduziert werde: «Du wirst immer nur zu deinem Land befragt, zur Politik. Aber vielleicht möchtest du lieber über Sport sprechen? Oder über sonst ein Thema, das dich interessiert, wie alle anderen auch!»

Kein Schweizer Visum für irakische Künstler

Nach einer Stunde im Bunker frösteln alle. Es habe wenig Sauerstoff, stellt jemand fest. Mir ist etwas schwindelig. Vielleicht vom fehlenden Tageslicht, oder von den Themen, um die es hier geht. Die Einordnung ist nicht leicht: Etwas schade ist der fehlende Kontext zu den Bildern, auch die Namen der Künstlerinnen und Künstler sind schwer zu finden im Halbdunkel. Die Ausstellung lebt vom surrealen Ort, vom Gefühl, das sich einstellt, von der eigenen Stimme, die anders klingt als draussen.  

Mehr

Wer «Shelter» besucht, realisiert rasch: Das internationale Sorgenbarometer ist sehr unterschiedlich kalibriert. Es ist ironischerweise passend, dass vier jungen irakischen Künstlern des Kollektivs MesahaExterner Link die Reise zum Festival verwehrt blieb – sie erhielten aufgrund von Komplikationen ihr Visum für die Schweiz nicht rechtzeitig. Kein Shelter, keine temporäre Zuflucht hierzulande. Künstlerischer Austausch – auch das ist ein Privileg.

Wir treten wieder an die frische Luft, etwas erleichtert. Blätter rauschen im Wind, es riecht nach Regen, Zigaretten werden angezündet. Vom nahen Spielplatz: ein Kinderlachen. Die Krisen bleiben im Bunker. Wir schlendern gemeinsam in die Stadt zurück. Ein friedlicher Spaziergang – das vermeintlich Normalste der Welt.

Externer Inhalt

«Shelter» @ Comicfestival FumettoExterner Link
Zivilschutzanlage Sonnenberg
Partner: Médecins sans Frontières.Externer Link
Einlass: 10.00 bis 20.00 Uhr, wochentags zur ganzen, am Wochenende zu halben und ganzen Stunde.  

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