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Von Zürich bis Kairo: Moderevolution setzt auf gebrauchte Textilien

Bild mit Schriftzug What you wear matters
Die globale Fashion Revolution-Bewegung kämpft seit 2013 gegen die Wegwerfmode-Industrie oder "Fast Fashion". Qui Qingzhi

Designerinnen aus Ägypten und Modeschöpfer aus der Schweiz haben sich zusammengetan, um einen Kontrapunkt gegen die Fast-Fashion-Industrie zu setzen. Modische Kleidungsstücke werden aus rezyklierten Stoffen hergestellt.

An einem kalten Märzabend zeigte eine Gruppe von «Moderevolutionären», was man mit rezyklierten Stoffen und ein wenig Fantasie alles machen kann. Die Gruppe traf sich im Maison Shift, einem verlassenen Gebäude im Kasernenareal von Zürich, das früher von der Polizei als Schiessstand genutzt wurde.

Der Ort ist zum Treffpunkt der Bewegung Fashion RevolutionExterner Link geworden. Bei den Moderevolutionär:innen geht es insbesondere um einen Austausch zur Frage, wie die Modebranche nachhaltiger werden und ihren ökologischen Fussabdruck klein halten kann.

An diesem Abend treffen sich Designerinnen und Designer aus unterschiedlichen, aber konvergierenden Welten: Auf der einen Seite aus der alternativen und unkonventionellen Schweizer Designer-Szene, auf der anderen Seite aus der Gemeinschaft von ägyptischen Kleinunternehmer:innen, die mit nicht-kommerziellen Formen der Mode experimentieren.

Zwei von ihnen könnten unterschiedlicher nicht sein: Die 29-Jährige Bassant MaximusExterner Link, mit schwarzen Fransen über den Augen, entwirft in Kairo Hochzeitskleider. Der gleichaltrige Jonas Peter Schneider alias «Jope», blonder Hipster-Bart und Wollmütze, lebt in Zürich und stellt Hüte aus rezyklierten Materialien her.

Doch Bassant und Jope haben etwas gemeinsam: Beide teilen die Leidenschaft für Entwürfe aus gebrauchten Stoffen, die eine Geschichte zu erzählen haben. Beide haben zwischen 2022 und 2023 an einem von Fashion Revolution organisierten und von Pro Helvetia unterstützten Modeaufenthalt teilgenommen, zuerst in Kairo und dann in Zürich.

«Fashion Revolution» ist eine weltweite Bewegung, die sich dafür einsetzt, dass die Modeindustrie die Menschenrechte und die Umwelt respektiert.

Begründet wurde die Bewegung von zwei Modedesignerinnen – der Italienerin (mit Wohnsitz in London) Orsola de Castro und der Britin Carry Somers.

Im Laufe der Jahre hat sich die Bewegung ausgeweitet und ist heute in 14 Ländern vertreten. Die Mode-Residenz, an der drei Schweizer und zwei ägyptische Designerinnen und Designer teilnahmen, wurde von der Schweizer Kunst- und Kulturstiftung Pro Helvetia mit rund 45’000 Franken unterstützt.

Fashion Revolution kämpft seit 2013 gegen die Wegwerfmode oder «Fast Fashion». Es war das Jahr, in dem 1134 Textilarbeiter:innen beim Einsturz eines schlecht gewarteten Fabrikgebäudes in Bangladesch ums Leben kamen.

Die «Rana Plaza»-TragödieExterner Link machte die Brutalität und desolaten Arbeits- und Sicherheitsbedingungen in der Textilindustrie deutlich, deren einziges Ziel die billige Produktion von minderwertigen und kurzlebigen Kleidungsstücken ist. Seit 2016 ist Fashion Revolution auch in der Schweiz aktiv, wo importierte Billigkleidung trotz der hohen Kaufkraft der Bevölkerung fast ein Monopol auf dem Bekleidungsmarkt hat.

Bassant und Jope gehören zu denjenigen, die sich gegen dieses System auflehnen. Sie kritisieren den übermässigen Verbrauch von Stoffen, die schon bald in Secondhand-Läden oder Kehrichtdeponien landen. Trotz ihrer unterschiedlichen Lebensumstände und -geschichten haben beide den Textilabfall zu ihrer Kunst und ihrem Markenzeichen gemacht.

>> Video: Unsere Reportage über die Mode-Residenz:

«Alles kann ein Hut werden»

In der Schweiz hat Jope schon immer mit gebrauchten und rezyklierbaren Objekten und Materialien gearbeitet – etwa Sofas, die er auf der Strasse fand, bis hin zu Abfallsäcken. Er spielt in seinen Objekten mit Abfällen aller Art und liebt es, diese auf die bizarrste Weise zu kombinieren, um sie in Hüte und Designerkleidung zu verwandeln.

Dieser Prozess ist das Herzstück des so genannten UpcyclingsExterner Link, bei dem es nicht nur um «Recycling» von Materialien geht, sondern vor allem darum, aus wiederverwerteten Restbeständen Neues zu schaffen. Den ausrangierten Produkten wird neues Leben und damit eine neue Würde verliehen.

Nach seiner Ankunft in Kairo fühlte sich Jope sofort zu Hause: Er lernte, auf Arabisch «ich nähe» zu sagen und benutzte diesen Ausdruck, um sich Zulass zu Abfalldeponien und Märkten zu verschaffen. «Kairo ist grossartig: Überall findet man Textilreste: auf den Strassen, auf dem Boden und auf den verschiedenen Märkten», sagt er.

Aus einem Schwamm wird ein Hut

Während seines sechswöchigen Aufenthalts in der ägyptischen Hauptstadt fertigte er etliche Hüte an. Und diese verkörpern die Quintessenz der lokalen Traditionen und des Strassenlebens. Er verarbeitete nicht nur Stoffe, sondern auch Metallstücke und Elektroschrott.

Auf einen Hut aus dem für Ägypten typischen Luffaschwamm nähte der Designer ein Visier aus dem Einband eines Notizbuchs, das er bei einem Stickerei-Workshop erhalten hatte, und aus einem weissen Stück Stoff, das er am Nil gefunden hatte. Auf einem anderen beigefarbenen, gerippten Hut erscheint die plastische Aufschrift «Ahlan» (Arabisch für «Willkommen»).

Es ist so, als ob jeder Hut Kairo in einem anderen Licht zeigt, mal konventioneller, mal völlig abstrakt. «Alles kann ein Hut sein oder werden», sagt Jope, während er erzählt, wie ihn die chaotische Metropole kreativ animiert hat.

Plastiksäcke aus Ägypten
Wenn man in Ägypten etwas kauft, erhält man einen Plastiksack, oft mit einem ausgefallenen Design. Während seines Aufenthalts in Kairo verwandelte der Schweizer Textildesigner Thibaud Baslinger diese Umschläge in robuste, trendige Taschen. «Plastik ist ein sehr interessantes Material, mit dem man fantastische Objekte kreieren kann», sagt Baslinger. Sara Ibrahim / swissinfo.ch

Jope vergnügte sich auch mit sozialen Experimenten: Er lief mit seinen Mützen durch die überfüllten Strassen von Kairo, um die Reaktion der Menschen auf seine unkonventionelle Mode zu testen. Seine Kreationen haben mit den lokalen Gepflogenheiten nichts gemein.

Die Art und Weise, wie sich Menschen in Ägypten kleiden, ist je nach sozialer Schicht sehr unterschiedlich. In einem religiös geprägten Umfeld hat die Kopfbedeckung sowohl für Männer als auch für Frauen einen starken ästhetischen und religiösen Wert. «Es war spannend zu sehen, wie die Menschen vor Ort auf meine Kopfbedeckung reagierten», so Jope.

Ästhetische Standards hinterfragen

Auch Bassant Maximus stellt die örtlichen ästhetischen und sozialen Normen in Frage. Tagsüber entwirft die Stylistin Hochzeitskleider, nachts gibt sie als Youtuberin Ratschläge für die Wiederverwertung von Altkleidern. Vor fünf Jahren begann sie eher zufällig mit dem Upcycling.

Sie erzählt, dass es in Kairo eine Art Stigma gegenüber gebrauchten Kleidern gibt. In weniger wohlhabenden Familien sei es zwar normal, vorhandene Stoffe wiederzuverwerten, wenn auch in bescheidenem Umfang.

Doch umgekehrt lege die wohlhabende Schicht Wert auf immer neue Kleider. Infolge der Globalisierung verändere sich die Situation momentan aber. Die ägyptische Hauptstadt werde mit Bergen von Billigkleidern ohne jegliche kulturelle Prägung überschwemmt.

Durch Upcycling hat Bassant handgefertigte Kleidungsstücke aus der lokalen Tradition entdeckt und sie in einem modernen Gewand neu erfunden. Dabei hinterfragte sie die streng geschlechtsspezifische Ästhetik der ägyptischen Gesellschaft. Die typisch männliche Kleidung, die in Südägypten getragen wird, könnte aus europäischer Sicht femininer aussehen.

Durch die Veränderung einiger Details und Nähte lässt sich ein Kleidungsstück selbst in den Augen eines ägyptischen Mannes umgehend feminisieren. «Ich arbeite gerne mit dieser Fragestellung: Ist es eher weiblich oder eher männlich? Was ist dieses Kleidungsstück?», meint Bassant.

Die Designerin zeigt uns eine braune Männertunika, die sie in einen einteiligen Anzug verwandelt hat. «Paradoxerweise würde ein ägyptischer Mann diese Gewandt niemals tragen, da es nun Hosenbeine hat», sagt sie und lächelt.

Eine Unterhose und ein Büstenhalter aus recykliertem Stoff
Es ist nicht schwer, auf ägyptischen Märkten und in Geschäften aufreizende Unterwäsche und Kleidungsstücke zu finden. Dies steht in auffälligem Kontrast zu der eher strengen Kleidung der meisten Frauen. In Kairo reflektierte die Schweizer Modedesignerin Nina Jaun diesen Kontrast, indem sie ein Secondhand-Kleid in Dessous umwandelte. Sara Ibrahim / swissinfo.ch

Früher ein Tischtuch, jetzt ein Faltenrock

Während ihres Aufenthalts in der Schweiz war Bassant fasziniert von den vielen Stickereien, die typisch für die Schweizer Tradition sind, und liess sich davon inspirieren. Sie verwandelte ein Tischtuch, einen Vorhang und eine Serviette in einen Faltenrock, eine Bluse und eine modische Handtasche Vintage-Style.

«Die Leute werfen viele Dinge weg, die sie zu Hause haben, die aber gut erhalten sind und mit Liebe und Sorgfalt hergestellt wurden.»

Bassant zeigt uns ein Detail eines Spiegels mit einer klassischen Schweizer Kreuzstich-Bestickung, wobei das zentrale Motiv eingerahmt ist, um den karierten Stoff hervorzuheben: «Es ist klar, dass dies keine Maschinen gemacht haben, sondern Handarbeit dahintersteckt.»

Blühende Textilvergangenheit

Zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert war die Ostschweizer Stickerei aus St. Gallen und Appenzell in der ganzen Welt bekannt und geschätzt. Auch Zürich florierte Mitte des 19. Jahrhunderts dank seiner Textilindustrie und insbesondere der Produktion von Seidenstoffen.

Von dieser glorreichen Textilvergangenheit ist in Zürich wenig geblieben. Prachtvolle Gebäude, die einst den Seidenstoff produzierenden Industriellenfamilien gehörten, werden heute von Banken und Immobilienunternehmen genutzt. Das Maison Shift, das Ende Mai offiziell eröffnet wird, ist ein Versuch, hochwertiges Textildesign in der Region wiederzubeleben, indem es die Ökologie und Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt stellt.

Es überrascht nicht, dass das Projekt von der Zürcher Seidenindustrie GesellschaftExterner Link (ZSIG) mit einer hohen (nicht genannten) Summe gesponsert wurde. «Wenn man die Einstellung der Konsument:innen ändern will, muss man dort beginnen, wo die Kleidungsstücke entstehen», sagt Susanne Rudolf, Co-Leiterin von Fashion Revolution Switzerland. Das gilt nicht nur für die Schweiz und Ägypten, sondern für die ganze Welt.

Editiert von David Eugster, Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Sara Ibrahim

Was halten Sie von den Bergen billig hergestellter Kleidung, welche die Geschäfte überschwemmen?

Wie kann die Modeindustrie umgestaltet werden, um sie nachhaltiger zu machen? Wie können wir dazu beitragen?

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Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob

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