Schweizer in der Hölle von Verdun und an der Somme
Genfer, Jurassier und Freiburger, die im Ersten Weltkrieg in Verdun kämpften, waren mehrheitlich in der Schweiz niedergelassene Franzosen. Zum Beispiel Raphaël Radraux aus Bulle, der ein Kriegs-Tagebuch führte. Bei der Schlacht an der Somme wurde das massive Engagement der Schweizer in der Fremdenlegion durch die fürchterliche Eroberung von Belloy-en-Santerre überschattet.
Am 21. Februar 1916 startete die deutsche Armee eine Grossoffensive gegen die Festung von Verdun, die als uneinnehmbar gegolten hatte. Die Kämpfe, die bis Dezember dauerten, forderten 300’000 Opfer.
Verdun war für Frankreich sogar das Symbol des «Grossen Krieges»: Zwei Drittel der französischen Divisionen waren in die Schlacht involviert. «Wer bei Verdun nicht dabei war, hat nicht am Krieg teilgenommen», schrieb etwa der Soldat und Schriftsteller Jacques d’Arnoux.
Laut der Website des französischen Verteidigungsministeriums Mémoire des hommesExterner Link starben während den zehn Monate dauernden Kämpfen in der Umgebung von Verdun 77 Soldaten aus der Schweiz. Die meisten gehörten den Infanterie-Regimentern an. «Vom Feind getötet», heisst bei den meisten auf den administrativen Fichen, die während oder nach dem Krieg verfasst wurden. Der umgangssprachliche Ausdruck bedeutet so viel wie: im Kampf gefallen, von Zeugen bestätigt.
Das Schweizer Engagement (inoffizielle Zahlen)
Wie viele Schweizer haben von 1914 bis 1918 auf französischer Seite in den Brigaden der Legion gekämpft? In seinem Buch «Honneur et fidélité» (Ehre und Treue) über den Dienst der Schweizer im Ausland schätzt Paul de Vallière die Zahl der Schweizer Legionäre auf 14’000. Diese Zahl ist zweifellos zu hoch.
«Die Schweizer machten immer etwas mehr als einen Drittel der Ausländer-Regimente aus», schreibt Gauthey des Gouttes 1916, der das Schweizer Komitee im Dienst Frankreichs präsidierte. Er schätzt, dass es sich um rund 2500 bis 3000 handelte. Walter Scher, Legionär im 1. Ausländer-Regiment, schreibt nach dem Krieg, «dass es seit dem Kriegsanfang in den Elite-Regimentern mehr als 39’000 Einsätze aus allen Ländern der Welt gab. Davon waren 8000 Schweizer.»
Wer aber waren diese Baudet, Béguin, Blesmaille, Paccard, Paicheur, Rey, Tavernier, Weiss, usw., auf deren Fichen die Nationalität nicht festgehalten wurde? Es waren mehrheitlich Franzosen, die sich in der Schweiz niedergelassen hatten. «Das damals geltende Gesetz, das durch die königliche Verordnung vom 10. März 1831 geregelt wurde», präzisiert der Historiker Jérôme Christinaz, «erlaubte das Engagement von Ausländern in französischen Truppen nur, wenn dieses durch die Fremdenlegion abgeschlossen wurde». Aber die Fremdenlegion nahm nicht an den Kämpfen von Verdun teil.
Erleichterte Einbürgerung
Es könne allerdings nicht ausgeschlossen werden, sondern sei sogar wahrscheinlich, dass eingebürgerte Schweizer an der Schlacht von Verdun teilgenommen hätten. Die Gesetzgebung zu Beginn des Kriegs hat zahlreichen Ausländern, darunter auch Schweizern, eine erleichterte Einbürgerung ermöglicht, unter der Bedingung, dass sie ein freiwilliges Engagement während der Dauer des Kriegs unterzeichneten.
Diese Eingebürgerten verzichteten auf die helvetische Staatsbürgerschaft, um gegen die Deutschen zu kämpfen. Das gilt zweifellos für François Émile Héritier, der in Granois in der Walliser Gemeinde Savièse geboren und ab 1914 zum Infanterieregiment 267 gehörte; oder für den Deutschschweizer Gottfried Hegglin, der am 20. April in Cumières (10 km nordwestlich von Verdun) getötet wurde.
Der Werdegang dieser Soldaten, Schweizer oder Franzosen-Schweizer, folgt den dramatischen Unwägbarkeiten der Schlacht. Ende Februar fielen der Urner Rutschmann und der Jurassier Waldt der verheerenden Offensive der Deutschen zum Opfer.
Der Walliser Héritier und der Genfer Feldweibel Delarze fielen, als die Franzosen Ende Mai versuchten, Cumières zurückzuerobern. Das zerstörte Cumières-Le-Mort-Homme ist nach dem Krieg nicht wieder aufgebaut worden.
Ende Oktober drehte der Wind zugunsten Frankreichs. Das Regiment 230 hatte den Auftrag, das ganze feindliche Verteidigungssystem Richtung Fumin-Wald und Etang de Vaux «wegzuraffen und zu säubern». Eine mörderische Operation; etwa zehn Westschweizer verloren dabei ihr Leben.
Das Verdun von Radraux aus Bulle
Raphaël Radraux hatte mehr Glück. Der Leiter des Musik-Corps der Stadt Bulle wurde, wie alle Franzosen im August 1914, aufgeboten. Im Juli 1916 befand er sich in Verdun. In seinem Tagebuch, aus dem 2009 der Historiker Pierre-Alain Stolarski in den Freiburger Annalen Auszüge publiziert hat, erzählte Radraux vom «unvergesslichen Spektakel».
«Der ganze Himmel steht in Flammen, es herrscht ohrenbetäubender Lärm. Von allen Seiten sieht man Feuerzungen aus den Mäulern der Kanonen schiessen. Der Abzug der grossen Geschütze erinnert an das Gebrüll von Löwen (…). Stellen Sie sich vor, liebe Leser, was für einen Lärm und welche Verwüstungen 3200 Geschütze verursachen, aus denen nachts während 8 bis 10 Stunden geschossen wird.»
Der Truppenmusikant und Sanitäter Radraux beschreibt den riskanten Transport der Verletzten. «Die zu durchquerende Zone ist von den Granaten total zerstört, in einigen Löchern kann man einen Wagen samt Pferd versorgen. Die vier Sanitäter, die es braucht, um einen Verletzten auf der Bahre zu transportieren, müssen all diese Einschusslöcher umgehen. Man muss dauernd auf den Rändern gehen. Während der ganzen Nacht schiessen Franzosen und Deutsche Leuchtraketen (…) Bei jeder Leuchtrakete muss man sich ducken, um nicht gesehen zu werden.»
Für Radraux ging der Krieg 1917 zu Ende, als er mit schweren Verletzungen in den Kanton Freiburg zurückkehrte.
Das Schweizer Drama an der Somme
Für die Schweiz und ihre zu Ende gehende Tradition der «Dienste im Ausland» war die Schlacht an der Somme noch mörderischer. Zwischen dem Beginn der französisch-britischen Offensive vom 1. Juli 1916 und dem Ende der Kämpfe im Dezember kamen an der Front 130 Soldaten um, die in der Schweiz geboren worden waren.
Die meisten Eidgenossen waren in der Fremdenlegion engagiert. Die von den Alliierten von langer Hand vorbereitete Offensive begann schlecht. Am 1. Juli werden die schlecht vorbereiteten «Tommies» (Bezeichnung für britische Soldaten) von den Maschinengewehren der «Boches» (abwertende Bezeichnung für Deutsche) niedergewalzt. Die schreckliche Bilanz: mehr als 20’000 Tote und 35’000 Verletzte, «ein Weltrekord in einem konventionellen Krieg», sagt Historiker Alain Denizot.
An diesem 1. Juli schreibt einige Kilometer südlich davon der Genfer Gustave Marolf vom ersten Regiment der Fremdenlegion seinem Bruder Alphonse: «Ich nutze eine Abschwächung der Kämpfe, um dir zu schreiben und mitzuteilen, dass ich soeben auf dem Schlachtfeld zum Hauptmann ernannt wurde. Freue dich mit mir. Du kannst dir keine Vorstellung von unseren Artillerie-Vorbereitungen machen. Während ich dir schreibe, betäubt uns das Geratter sämtlicher Kaliber buchstäblich.»
Danach treffen keine Nachrichten mehr ein. Alphonse, der Bruder in Genf, ist besorgt und erkundigt sich bei der französischen Armee. Schliesslich erhält er zwei Monate später ein Schreiben, das von General Fayolle unterzeichnet ist. «Brillanter Offizier mit bewundernswertem Tatendrang. Nach der Eroberung eines verbissen verteidigten Dorfes musste er Elemente von zwei Kompagnien zusammenführen. An deren Spitze ist er heldenhaft gefallen.»
«Vom Feind getötet.» Anstelle eines Trostes, ein Kriegskreuz mit Palme. Unter dem Schock stürzt sich Alphonse in eine bedrückende Recherche über die Umstände von Gustaves Tod. Dabei erfährt er, dass sein Bruder am 4 Juli unter dem rechten Auge verletzt wurde. «Er weigerte sich kategorisch, sich evakuieren zu lassen», teilt ihm der Kommandant der Legion mit. Er protokolliert den Zeugenbericht des Waadtländer Legionärs Bailly, Sekretär von Marolf, der als Letzter Gustave lebend gesehen hat.
«Am Nachmittag des 5. Juli, als ich meinem Hauptmann einen Befehl überbringen sollte, ist es mir nach Tausend Umwegen um die Schützengräben gelungen, ihn zu entdecken. Ich bin einen Augenblick nach der Explosion einer Granate des Sperrfeuers der deutschen Artillerie auf ihn gestossen. Hauptmann Marolf lag schwer an der Brust verletzt auf dem Boden des Schützengrabens.» Er starb auf der Tragbahre
Blutbad in Belloy
Am 4. und 5. Juli 1916 starben nicht nur Marolf, sondern 43 weitere Schweizer bei der Eroberung von Belloy-en Santerre. Das Dorf östlich von Amiens glich einer Festung. «Es ist die stärkste und am besten verteidigte Stellung der Welt», hatte Churchill gesagt.
Hauptmann de Tscharner, in dessen Familie zwölf Soldaten im Dienst des Königs von Frankreich standen, berichtet über den Angriff am Abend des 4. Juli. «Die 11. Kompagnie hatte unter dem permanenten feindlichen Maschinengewehrfeuer auf dem Weg Estrées-Belloy, 300 Meter vom Dorf entfernt, schrecklich gelitten. Auf einem relativ engen Raum fielen alle Offiziere und Unteroffiziere. Das riesige, nicht kultivierte Feld war bedeckt von Verletzten.» Hauptmann de Tscharner kommt mit einer Verletzung an der Schulter davon.
Spät am Abend zeichnet das Regiment der Fremdenlegion eine «positive» Bilanz des Tages: Belloy ist eingenommen, 700 bis 900 Deutsche wurden gefangen genommen. Aber 5 Offiziere und 112 Unteroffiziere und Soldaten sind nicht zum Appell erschienen, 131 sind verschwunden. Unter ihnen die Schweizer Soldaten Burki, Chopard, Desarzens, Hofstetter, Jotterand, Morgenegg, Thalmann und viele andere, unter denen einige am Tag darauf ihren Verletzungen erliegen.
«Wie jene von Verdun ist auch die Schlacht an der Somme Symbol der nutzlosen und kostspieligen Offensive», fasst Historiker Alain Denizot zusammen.
Warum Verdun?
Im Buch «Verdun 1916», das kürzlich im Verlag Tallandier erschienen ist, kommen der deutsche Historiker Gerd Krumeich und sein französischer Kollege Antoine Prost auf die alte Polemik über die deutschen Ziele zurück.
«Warum Verdun?», warum eine Festung ersten Ranges angreifen, die von deutschen Militärexperten kurz vor dem Krieg als uneinnehmbar beurteilt wurde? Hat nicht Falkenhayn (deutscher Generalstabschef) in seinem «Weihnachts-Memorandum» 1915 geschrieben, dass man Verdun angreifen musste, weil die Franzosen dort alles geben mussten, um es zu verteidigen? Und dass man sie deshalb dort «ausbluten» und sie zum Ausstieg aus dem Krieg zwingen könnte?
Laut den beiden Historikern hat das Memorandum, von dem Falkenhayn behauptete, dass er dieses vor Weihnachten dem Kaiser übergeben hätte, nie existiert. «Es basiert auf einer Behauptung, die – an Weihnachten 1915 – völlig unbewiesen ist, nämlich der Behauptung, dass Verdun so grosse Bedeutung hatte, dass sich die Franzosen darauf versteifen würden, diesen Ort zu verteidigen.»
Das Ziel der Deutschen sei nur gewesen, an diesem strategischen Ort einen entscheidenden Bruch herbeizuführen.
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
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