Was der Krieg aus dem Menschen macht
"Lore", ein Film im Stil eines Roadmovie über das Überleben in den letzten Tagen des Dritten Reiches, gehört am Filmfestival Locarno zu den Höhepunkten der ersten Tage. In der Hauptrolle ist die junge Saskia Rosendahl eine Entdeckung.
Ende April, irgendwo im Schwarzwald im Süden Deutschlands: Der Krieg ist verloren, in wenigen Stunden wird sich Hitler erschiessen.
Auf der Flucht vor den herannahenden amerikanischen Truppen versteckt sich ein hoher Nazi mit seiner Familie in einem abgelegenen Haus. Angesichts der Welt, die einstürzt, trennen sich die Wege der Eltern: Während der Vater in seinen letzten Kampf zieht, stellt sich die Mutter lieber, statt sich verhaften zu lassen.
So beginnt «Lore» von Cate Shortland. Die Australierin stützte sich dabei auf einen Erzählstrang im Roman «Die dunkle Kammer» von Rachel Seiffert.
Jetzt muss die 15-jährige Lore für ihre jüngeren Geschwister sorgen. Der Kleinste, noch ein Säugling, ist von Hunger geschwächt. Lore hat nur ein Ziel: sich zur Grossmutter nach Norddeutschland durchzuschlagen.
Unterwegs werden die Kinder, welche die Nazi-Propaganda mit der Muttermilch aufgesogen haben, plötzlich mit den Trümmern Hitler-Deutschlands konfrontiert. Und sie erleben, wie sich Menschen, die soeben noch stramme Anhänger Hitlers waren, innert Kürze in Wilde verwandeln, nur noch auf das eigene Überleben bedacht.
In diesem Dschungel ohne Gesetze treffen sie auf einen jungen Juden, der ihnen hilft. Dieser geniesst den Schutz der Amerikaner, hatten sie ihn doch zuvor aus einem Konzentrationslager befreit.
Einen Juden grüssen? Für Lore unvorstellbar. Und die Bilder der Leichenberge aus Auschwitz, Dachau und Buchenwald? Alles Fälschungen! Lore ist die erste grosse Rolle der 18-jährigen Saskia Rosendahl. Die junge Deutsche agiert kontrolliert und mit präzisem Gefühl. Die Rohheit, die auch Lore innewohnt, ist mehr Andeutung denn manifester Ausbruch.
Universelle Geschichte aus dem Krieg
Erinnerungsfilme, gerade solche aus Deutschland, sind wahrlich keine Seltenheit. Lore aber brilliert durch die konsequente Erzählperspektive aus Sicht der Kinder. «Ich wollte zeigen, wie ein 15-jähriges Mädchen brutal erfährt, dass die gesamte Struktur der Gesellschaft falsch war, weil sie Menschen entmenschlicht und die Empathie abtötet», sagt die Regisseurin Cate Shortland.
Aber wie kommt eine australische Filmemacherin auf diese Geschichte aus Deutschland? «Die Familie meines Mannes war 1936 aus Deutschland geflüchtet», sagt Shortland. «Als Historikerin habe ich auch über Faschismus geforscht. Zudem war mein Vater ein passionierter Militärhistoriker.»
Sieben Jahre dauerte es, bis sie ihr Werk mit Fördergelder aus Deutschland, Grossbritannien und Australien vollendet hatte. «Ich hatte nach dem Ende der Apartheid in Südafrika gelebt, und auch Australien machte sich kolonialer Grausamkeiten schuldig. Nicht nur die Deutschen wissen, was es heisst, zu den Henkern zu gehören», sagt die Filmemacherin.
Auch die junge Hauptdarstellerin ist mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges her vertraut. «Das Thema wird an der Schule von verschiedenen Seiten her behandelt. Es ist auch heute noch aktuell, denn es gibt Neonazis – nicht nur in Deutschland», sagt Saskia Rosendahl.
«Du riechst nach Tod, mein Kind….»
Auf dem Weg nach Hamburg zur Grossmutter haben Lore und ihre Geschwister 700 Kilometer zurück zu legen. Vor Dreck starrend, von Hunger und dem unablässigen Geschrei des Kleinsten geplagt, schleppt sich die Schar durch Wälder und über Felder, eher Phantomen gleich als Flüchtlingen, die der Krieg heimatlos gemacht hat. Einer Begegnung mit Besatzungstruppen fällt einer der Brüder zum Opfer, er wird von einem russischen Soldaten erschossen.
In dieser Welt, in der niemand ist, was er scheint, hängen sich die Kinder rasch an ihren Beschützer, den jungen Juden. Lore ist durch das gute Aussehen des jungen Mannes zunehmend irritiert. Aber es ist nicht die Zeit für Romantik. Zudem hat auch er sein Geheimnis.
Sie erreichen einen Fluss, können aber nicht ans andere Ufer gelangen, denn die Brücke ist zerstört. Für die Überfahrt in einem Boot bietet Lore als Bezahlung das letzte an, was sie hat: ihren Körper. Doch ihr Begleiter, der zuvor durchaus Interesse signalisiert hatte, stösst sie mit der Bemerkung zurück: «Du riechst nach Tod, mein Kind…»
Am Ziel angekommen, kehren die Lebensgeister allmählich wieder in die Kleinen zurück. So tanzt die Schwester begeistert zur neuen Musik, die amerikanische Radiosender spielen.
Für Lore aber wartet kein Happy End. Sie bricht nach den traumatischen Erfahrungen auf der Reise zusammen. Das sorgsam gehütete Porzellangeschirr ihrer Puppenküche wischt sie mit einem Schlag auf den Boden. Mit dieser wütenden Geste löscht Lore ihre gestohlene Kindheit aus.
Drei von 37 Filmen, die am Donnerstag im Festivalprogramm zu sehen waren:
«Jack & Diane»: Irrungen und Wirrungen eines jungen lesbischen Paares. Kein weiterer «Teen Movie», aber auch kein Meisterwerk der «Coming of Age»-Schublade. Düster, etwas konfus, mit Traumsequenzen, in denen eine zuckende, klebrige Kreatur erscheint, die direkt dem Film «The Fly» von David Cronenberg entstammen könnte.
Bradley Rust Gray, USA, 2011, 106’, (im internationalen Wettbewerb).
«Compliance». In einem Fastfood-Restaurant beschuldigt eine Kundin, von einer Kassiererin bestohlen worden zu sein. Ein Polizist, der noch auf dem Weg ist, instruiert per Telefon die Gerantin des Restaurants, welche Fragen sie der Beschuldigten stellen soll und dass sie die Kleider und Taschen der Verdächtigen durchsuchen soll. Schliesslich geht es um eine Leibesvisitation… Die Befehle des Polizisten am Telefon werden immer präziser, und delikater. Aber alle befolgen seine Order. Thriller in bester Hitchcock-Manier über die Macht der Manipulation durch überzeugende Stimmen und die Servilität jener, die zuhören.
Craig Zobel, USA, 2012, 90’, (im internationalen Wettbewerb).
«Orléans»: Geschichte zweier Prostituierten, die auf eine Jungfrau treffen. Am Feiertag Jeanne d’Arcs treffen die beiden Tänzerinnen in einer Pause auf das junge Mädchen, das im Umzug die heilige Jungfrau spielt. Sympathischer Zusammenprall zweier Welten, aber etwas naiv in der Absicht, zähflüssige Erzählweise und überladen mit religiöser Symbolik.
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)
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