Was macht der Krieg mit russischen Kulturschaffenden in der Schweiz?
Wie erleben russische Kulturschaffende in der Schweiz diese Zeit? Und wie verändert er ihren Bezug zur russischen Kultur? swissinfo.ch hat mit drei Musikern gesprochen.
Die Zahl der Menschen, die Russland seit Kriegsbeginn verlassen haben, ist schwer zu ermitteln. Viele sind mit einem Touristenvisum gegangen, viele, die schon im Ausland waren, haben entschieden nicht mehr zurückzukehren. Darunter sind auch Kulturschaffende. swissinfo.ch hat mit drei von ihnen gesprochen, um herauszufinden, wie der Krieg ihre Arbeit verändert hat.
Als der Krieg begann, besuchte Anton Ponomarev mit seiner Schweizer Frau seine Eltern in Moskau: Sie sollten ihre zweimonatige Enkeltochter kennen lernen. Am 27. Februar erwischten sie den allerletzten Direktflug in die Schweiz. Am nächsten Tag protestierte er an einer Demonstration zur Unterstützung der Ukraine im Zentrum von Zürich.
Bevor er 2021 nach Zürich kam, hatte er als Psychologe und Musiker gearbeitet: «Am Morgen arbeitete ich mit geistig beeinträchtigen Kindern, am Nachmittag komponierte ich und spielte Saxofon.»
Zurück in der Schweiz schloss sich Ponomarev der russischen Punkband Pussy Riot an und stand mit ihr auf der Bühne, um Geld für ein Kinderkrankenhaus in Kiew zu sammeln. «Dies ist kein Projekt, bei dem ich als Musiker auftrete, es ist eher eine Performance als ein Konzert. Aber angesichts dessen, was seit Februar passiert, erschien mir die Unterstützung von Pussy Riot und der Ukraine wichtig.»
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Kulturelle Solidarität
Alexander Boldachev ist 2005 in die Schweiz gekommen, für sein Musikstudium. 2019 erhielt er die Schweizer Staatsbürgerschaft, aber der Krieg holte ihn bei seiner Mutter in St. Petersburg ein. Boldachev hatte einiges erreicht: Er war Solist am Bolschoi-Theater, spielte an der Eröffnung der Fussballweltmeisterschaft in Moskau. Aktuell tourt er für das Stück «Orpheus», mit der russischen Schauspielerin Chulpan Khamatova, die seit 2022 ebenfalls im Exil lebt.
Im März 2022 gründete er mit Kolleg:innen in Zürich die Gemeinschaft «LYUDY – Cultural Solidarity». Boldachev und seine Kolleg:innen haben LYUDY gegründet: «Wir haben eine Akademie aufgebaut, in der geflüchteten Kindern aus der Ukraine kostenlos Musikunterricht erhalten.» Es entstand ein Chor unter der Leitung der Ukrainerin Tatiana Severenchuk, und das «Swiss Asylum Orchestra».
Dort musizieren Geflüchtete aus der Ukraine, Weissrussland und Syrien zusammen. Mit dem Orchester organisiert Boldachev auch Benefiz-Konzerte, wie zum Beispiel in der Tonhalle Zürich Anfangs September, zusammen mit ukrainischen Musiker:innen. Der Titel der Veranstaltung: «Für Harmonie».
Die Lust am Musizieren verloren
Der sibirische Elektro-Musiker Stas Sharifullin, bekannt unter dem Pseudonym HMOT, war in Moskau Kurator für Sound Art & Sound Studies an der Higher School of Economics. Letzten Winter kam er für ein Pro Helvetia Residency nach Basel, um seine Forschung im Bereich der Mehrkanalmusik fortzusetzen. Nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine entschied er sich, zu bleiben: «Es wurde mir klar, dass es eine schlechte Idee war, jetzt zurückzukehren.»
Im Moment ist ihm die Lust auf Musik etwas vergangen. «Ich habe alle Instrumente dabei. Manchmal spiele ich abends Klavier, aber ich will nicht mehr so musizieren wie früher.» Das liegt auch daran, dass er sich nach dem 24. Februar stärker für Menschen engagierte als für Kompositionen. «Die Zeit ist knapp, weil andere Dinge dringlicher sind. Also ist die Musik ein wenig in den Hintergrund getreten.»
Er betont aber, dass er sich nicht von der russischen Kultur verabschieden will: «Ich habe Freund:innen, die sich nicht mehr mit Russland identifizieren wollen, die sagen, dass sie nie wieder zurückkehren werden. Aber das kann ich nicht: Ich liebe Sibirien, ich liebe die Arbeit mit der russischen Sprache. Ich denke nur, dass dies nicht nur die Sprache von Dostojewski und Tolstoi ist, sie ist viel breiter und muss zurückgewonnen werden.»
Der Krieg hat seinen Fokus verändert: Sharifullin interressiert nun viel mehr die Beziehung Russlands zum «unterentwickelten» Sibirien oder den Völkermord an Baschkiren, Tscherkes-sen und anderen Ethnien aufzuarbeiten. «Davon weiss niemand, nicht einmal in Russland und erst recht nicht im Westen.»
Gegen die koloniale Verwendung der Kultur
Für Sharifullin ist es wichtig, all diese Geschichten zu erzählen. Er hofft, dass sie helfen, den kolonialen Charakter von Russlands Krieg gegen die Ukraine zu verstehen und Illusionen über «brüderliche Völker» loszuwerden. Dazu gehört die alte sowjetische Rhetorik über die tiefe brüderliche Verbindung zwischen Russ:innen und Ukrainer:innen, die von der heutigen Propaganda verwendet wird.
Auch Alexander Boldachev sieht das so: «Ich liebe die russische Kultur, die, obwohl sie von der Propaganda benutzt wird, keine Schuld trägt.» Deshalb spiele er jetzt russische und ukrainische Musik. «Aber nicht um zu zeigen, dass wir «brüderliche Völker» sind, sondern um gemeinsam etwas Neues zu schaffen. Wir müssen neue Beziehungen knüpfen, nicht als Vasallen, nicht imperial, sondern universell.»
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