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Was tun?

Mit "Bündnis für Bildung" gegen Leseschwäche: EDK-Generalsekretär Hans Ambühl, EDK-Präsident Hans Ulrich Stöckling und EDK-Vizepräsidentin Martine Brunschwig Graf (v.l.). Keystone

Schüler und Schülerinnen in der Schweiz verfügen im internationalen Vergleich über geringe Lesefähigkeiten. Das soll sich nun ändern, aber nicht mit Schnellschüssen.

In der Schweiz kann jede fünfte Person am Ende der obligatorischen Schulzeit höchstens einen einfachen Text verstehen. Somit ist sie auf den Einstieg ins Berufsleben schlecht vorbereitet.

Dies zeigt das von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) lancierte und von zahlreichen Ländern durchgeführte Forschungsprojekt PISA (Programme for International Student Assessement).

Schock und Unbehagen

Das Resultat der PISA-Studie löste in der Schweizer Öffentlichkeit einen Schock aus. Auch bei den Verantwortlichen bei der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) kam Unbehagen auf, obschon dort betont wird, dass «PISA zwar ernst genommen werden müsse, doch daraus keine Schnellschüsse produziert werden dürfen». (EDK Organ «Education», 01.2002).

Dennoch: Der Schweizer Standard in Sachen Lesekompetenz sei enttäuschend, erklärte Erich Ramseier von der Berner Erziehungsdirektion gegenüber swissinfo. «Die Schweiz kann nicht zufrieden sein mit durchschnittlichen oder unter-durchschnittlichen Standards. Eine gut ausgebildete Bevölkerung ist eine unserer grössten Ressourcen.»

Fremdsprachigkeit und sozio-kultureller Hintergrund

Der Lernerfolg im Bereich Lesen hängt unter anderem von Faktoren ab wie Fremdsprachigkeit sowie kulturellem und sozialem Hintergrund. Und auch das Geschlecht spielt eine Rolle: Mädchen lesen lieber und besser.

In Sachen Fremdsprachigkeit meinte Urs Moser vom Kompetenz-Zentrum für Bildungsevaluation und Leistungsmessung an der Universität Zürich (KBL) gegenüber swissinfo, dem schweizerischen Schulsystem sei es nicht gelungen, den hohen Anteil von ausländischen Schülerinnen und Schülern zu integrieren. «Nicht als individuelle Schulen, sondern als Gesamtsystem.»

Gegenteiliger Diskurs Politik-Schule

Diesen Vorwurf weist EDK-Generalsekretär Hans Ambühl zurück. In den letzten Jahren sei der gesellschaftliche und politische Diskurs gegenüber der Schule eher gegenteilig gewesen. Man werfe der Schule vor, sie sei eigentlich nur noch für die Lernschwächeren, Lernbehinderten und durch eine andere Muttersprache Lerngehemmten da. Ausserdem werde zu wenig Förderung der Begabten und Hochbegabten betrieben, das Schulsystem sei nicht mehr auf individuelle Leistungsförderung ausgerichtet.

«Wir glauben also, dass wir unser System in den letzten Jahren ganz bewusst auf diese Integrations-Funktion ausgerichtet und darin sehr viel investiert haben», so Ambühl zu swissinfo.

Der leidige Dialekt

Erich Ramseier von der Berner Erziehungsdirektion ist der Ansicht, dass der hohe Ausländer-Anteil nicht allein verantwortlich sei für das Lese-Malaise in der Schweiz. Er weist dabei auf die guten PISA-Ergebnisse der Schweiz in der Mathematik hin. Daraus zieht er den Schluss, dass die Lesefähigkeit gegenüber der Mathematik womöglich vernachlässigt würde.

Und nicht zu vergessen: In der Deutschschweiz gilt Hochdeutsch quasi als eine Fremdsprache. Zu Hause sprechen die Kids Schweizerdeutsch, in der Schule müssen sie Hochdeutsch sprechen. Das könnte auf die PISA-Ergebnisse in der Schweiz auch einen Einfluss gehabt haben, meinen zahlreiche Lehrerinnen und Lehrer.

Hans Ambühl von der EDK ist der Auffassung, dass es auf keiner Schulstufe von der ersten Klasse an eine Ausrede geben darf, um dennoch Dialekt zu sprechen. «Unterrichtssprache soll die Standardsprache sein, also Hochdeutsch. Dafür brauche ich kein PISA-Resultat», sagt Ambühl gegenüber swissinfo.

Und was jetzt?

Die EDK hat nun Stellung zur PISA-Studie genommen. Fazit: EDK-Präsident Hans Ulrich Stöckling bekräftigte zwar vor den Medien den Ernst der Lage, betonte aber, dass nur drei Monate nach PISA Massnahmen weder vorgeschlagen werden sollen noch können. Die Reaktionszeit des Bildungssystems sei an sich lang, und Schnellschüsse müssten auch zum Wohl der Auszubildenden vermieden werden.

Die Plenarkonferenz kam deshalb überein, PISA im laufenden Jahr mit fünf Vertiefungsstudien weiter auszuwerten. Dabei soll unter anderem das System Schweiz mit den Spitzengruppen (Finnland, Kanada, Australien und Neuseeland) verglichen werden. Untersucht werde auch, ob andere Systeme mit vergleichbarer Ausgangslange die Integration und Leistungsförderung von Jugendlichen mit schwierigen sozialen und sprachlichen Voraussetzungen besser im Griff hätten.

Empfehlungen erst 2003

Empfehlungen an die Kantone mit dem Schwergewicht auf Förderung der Lesefähigkeit will die EDK dann im Jahr 2003 abgeben. Dazu gehörten vermutlich die Weiterentwicklung des Leseunterrichts, aber auch die Förderung der Standardsprache als Unterrichtssprache in der deutschen Schweiz und des ausserschulischen Lesens.

«Bündnis für Bildung»

Laut Stöckling ist klar geworden, dass PISA gesamtgesellschaftliche und soziale Fragestellungen aufgeworfen hat und nach Massnahmen verlangt, die über den schulischen Bereich hinausgehen. Diese sollen mit den verschiedenen Partnern aus Bildung und Arbeitswelt in einem «Bündnis für Bildung» festgelegt und umgesetzt werden.

EDK-Generalsekretär Hans Ambühl wies darauf hin, dass die Schweiz eines jener Länder sei, in denen sozio-ökonomischer Hintergrund und Migration als beharrlichste Ursache der tiefen Leseleistung gelten. «Wir wissen also, dass wir die Lösungen nicht durch Schule allein bewerkstelligen. Wir brauchen ein Bündnis mit anderen gesellschaftlichen und sozialen Kräften», so Ambühl zu swissinfo.

Jean-Michel Berthoud und Imogen Foulkes

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