Was uns Mani Matter (immer noch) über die Schweiz erzählen kann
Mani Matter, einer der beliebtesten Musiker der Schweiz, ist auch ein halbes Jahrhundert nach seinem allzu frühen Tod präsent. Warum das so ist – und warum es sich lohnt, seinen Status als nationales Kulturgut zu hinterfragen.
Stellen Sie sich vor: Der belgische Sänger Jacques Brel singt über einen dank ihm abgewendeten Terroranschlag auf den «Palast der Nation», den Sitz des belgischen Parlaments – und kommt zum Schluss, dass sich ein Bombenanschlag zu gegebener Zeit dennoch als notwendig für das Wohl der Nation erweisen könnte. Selbst wenn man die Spannungen in der belgischen Politik berücksichtigt, scheint dies ein eher ungewöhnlicher Vorschlag zu sein.
Und nun stellen Sie sich das gleiche Szenario mit einem Chansonnier aus der Schweiz vor, der darüber sinniert, wie wenig es braucht, um das Bundeshaus in Bern in die Luft zu sprengen. Etwa wenn die Parlamentarier:innen den demokratischen Werten, die sie zu verteidigen vorgeben, nicht gerecht werden.
Klingt ungeheuerlich? Immerhin sind die Schweizer:innen bekannt für ihre sprichwörtliche Ehrfurcht vor dem Rechtsstaat und die Zurückhaltung im politischen Diskurs. Zumindest für Deutschsprachige in der Schweiz ist das aber kein Widerspruch.
Denn besagter Sänger ist Hans Peter «Mani» Matter und das Lied, in dem er die Chancen des Bundeshauses gegen «paar Seck Dynamit» abwägt, heisst «Dynamit«. Und wie viele andere Matter-Lieder gehört es zum Standardrepertoire des Musiklehrplans der Deutschschweizer Primarschulen.
Unsterblich
Seit er am 24. November 1972 im Alter von 36 Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam, ist Mani Matter einer der wichtigsten «Konsens-Prominenten» der Deutschschweizer Popkultur – eine weitgehend unumstrittene Figur, die bei praktisch allen beliebt ist, unabhängig von Alter, Bildung und ideologischer Ausrichtung.
Eine solche Popularität mag Uneingeweihten angesichts des explosiven Inhalts eines Songs wie «Dynamit» als seltsame Anomalie erscheinen. Tatsächlich hat sich aber Matter nie gescheut, sein Songwriting von der Politik inspirieren zu lassen.
Sein grösster Hit, «I han es Zündhölzli azündt«, ist eine offensichtliche Anspielung auf die zeitgenössischen Ängste vor einem nuklearen Armageddon und stellt sich vor, wie ein auf den Teppich fallendes brennendes Streichholz zum Ende der Menschheit eskalieren könnte. «Hemmige» äussert die Hoffnung, dass es die menschliche Unbeholfenheit ist, die die Mächtigen davon abhalten wird, einen katastrophalen Krieg zu beginnen.
«Är isch vom Amt ufbotte gsy» und «Ballade vom Nationalrat Hugo Sanders» nehmen die Schweizer Bürokratie, beziehungsweise die politische Untätigkeit aufs Korn. Matters vielleicht schönstes und wichtigstes Lied, «Dene wos guet geit«, ist eine entwaffnend einfache Kritik an wirtschaftlichen Ungleichheiten.
Doch für diejenigen, die mit Matter als geschätztem Relikt aufgewachsen sind, als schnauzbärtigem Onkel, der in Schwarz-Weiss-Aufnahmen aus den 1960er-Jahren lustige Lieder singt, erscheint der Wandel vom scharf analysierenden Subversiven zum entpolitisierten Nationalschatz ganz natürlich: Der posthume Matter-Mythos, wie er in den Lehrplänen der Schulen, in Dokumentarfilmen und auf Hommage-Alben propagiert wird, ist der eines Künstlers einer längst vergangenen Ära, der frech – aber unschuldig – den Mächtigen die Wahrheit sagte. Und der aufgrund seines frühen, tragischen Todes fest in der nostalgischen Vergangenheit der Nachkriegsschweiz eingekapselt ist.
Damit ist er zu einer unbedrohlichen Schweizer Version eines Protestsängers der Gegenkultur geworden.
Der Mundart-Held
Und natürlich eignet sich Matters Musik für eine solche Interpretation. Seine Lieder, gesungen im behäbigen Berner Dialekt, waren fest im populären Genre des zeitgenössischen Chansons verwurzelt, das von Jacques Brel und Georges Brassens geprägt wurde.
Doch während der Ruhm dieser frankophonen Troubadoure über die Landesgrenzen hinausging, konnte Matters Musik aufgrund ihrer kulturellen und sprachlichen Eigenheiten stets nur innerhalb der engen Grenzen der Deutschschweiz erblühen. So ist sein oft unübersetzbares Berner Idiom, verewigt in seiner Schimpfwort-Ode «E Löl, e blöde Siech, e Glünggi un e Sürmu«, bis heute sein Erkennungsmerkmal geblieben.
Seine Texte sind vor allem amüsant und erzählen kleine Geschichten von missglückten Malversuchen («Chue am Waldrand«), schurkischen Weckern («Dr Wecker«) oder dem «metaphysischen Grauen», wenn man sich zwischen zwei Spiegeln wiederfindet («Bim Coiffeur«).
Und obwohl die meisten Lieder von Matter mehr oder weniger explizit als absurde Moralgeschichten, sanft-ironische Gesellschaftskommentare oder beides funktionieren – «Chue am Waldrand» zum Beispiel illustriert die Gefahren des Festhaltens an vorgefassten Meinungen –, sind sie mit ihren eingängigen Gitarrenmelodien und kindlichen Reimpaaren weithin leicht verdaulich. Ein Mani-Matter-Song mit expliziter Botschaft ist in gewisser Weise eher ein Gutenachtmärchen als ein typischer Protestsong der 1960er-Jahre.
Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch Matters zurückhaltende Bühnenpräsenz: Die Live-Mitschnitte, die von seinen Auftritten existieren, wie etwa das Live-Album «Ir Ysebahn» von 1973, zeigen einen wortkargen, witzig-selbstironischen Mann, der dem Bild des idealistischen Liedermachers widerspricht, da er scheinbar keine Ansprüche an seine Arbeit stellt. Die Tatsache, dass Matter promovierter Jurist war, an der Universität Bern lehrte und als Rechtsberater der Stadt Bern arbeitete, trug ihren Teil dazu bei, dass er gutbürgerlich wirkte.
Zeiten und Sitten im Wandel
Es gibt jedoch Anzeichen im öffentlichen Diskurs dafür, dass Matters weitgehend unangefochtener Status als verlässliche und versöhnliche Kulturikone 50 Jahre nach seinem Tod nicht mehr so klar ist wie einst – und es war ausgerechnet «Dynamit«, das dies kürzlich in aller Deutlichkeit vor Augen führte.
Im vergangenen Winter, beim Höhepunkt der Proteste gegen die Anti-Covid-Massnahmen, tauchte Matters verschleierte Warnung an die Mächtigen in regierungsfeindlichen KundgebungsredenExterner Link und Drohungen gegen das federführende Bundesamt für Gesundheit auf.
Die Aneignung mag frivol gewesen sein, aber die Wirkung war unbestreitbar: Es war, als ob «Dynamit» und mit ihm Matter aus ihrer abgesperrten Vitrine herausgerissen, ihrer unantastbaren Ikonizität beraubt und gewaltsam in die heutige Schweiz integriert worden wären, politische Polarisierung hin oder her.
Dabei wäre es nicht verwunderlich, wenn Matters Werk auch in den aktuellen Schweizer Debatten über «Wokeness» und die sogenannte «Cancel Culture» eine Rolle spielen würde. Tatsächlich hat der Germanist Nicolas von Passavant ein neues BuchExterner Link geschrieben, in dem er das Politische in Matters Werk untersucht.
Matter revidieren
Denn einige seiner Lieder, wie «Ds Heidi» oder «D Psyche vo dr Frou«, sind von einem beiläufigen Sexismus geprägt, wie er in den 1960er-Jahren üblich war. «Dr Eskimo» hingegen bedient konventionelle Stereotypen über das Leben der Inuit, während «Dr Sidi Abdel Assar vo El Hama» einen arabischen Mann porträtiert, der sich seine Wunschfrau nicht «leisten» kann.
Beide sind Paradebeispiele für die klischeehaften Darstellungen «fremder» Kulturen in der westlichen Kunst (wobei Matter im Fall von «Sidi» in seiner Einleitung seine eigene eingeschränkte Perspektive auf das Thema betont).
Eine kritische Hinterfragung dieses Aspekts von Matters Vermächtnis ist wichtig, nicht zuletzt wegen seines Nachlebens in den Klassenzimmern. Das politische Klima in der Schweiz, das dem internationalen Trend zur Polarisierung und zur Kontroverse über den Umgang mit «problematischen» Verhaltensweisen und historischen Persönlichkeiten folgt, lässt jedoch Zweifel an einer produktiven Diskussion aufkommen.
Wenn die jüngsten öffentlichen Abrechnungen mit kultureller Aneignung und Denkmälern im Zusammenhang mit dem internationalen Sklavenhandel in Zürich ein Hinweis darauf sind, wäre es nicht überraschend, riefe diese Neubetrachtung von Matter fieberhafte Schlagzeilen hervor, die vor «politisch korrekter Zensur» warnen würden.
Tatsächlich scheint es fast die logische Konsequenz eines 50-jährigen Mythos zu sein. Da eine Nation, die dazu erzogen wurde, Matter als unanfechtbares nationales Kulturgut zu betrachten, wird wohl vor der Aussicht zurückschrecken, ihn und sein Werk in einem differenzierteren Licht zu sehen.
Eine der vielen posthumen Mani Matter-Referenzen: Das Schweizer Indiepop-Quintett The Bianca Story hat sich für den Song «Does Mani Matter?» mit Dieter Meier von Yello zusammengetan (2013):
Editiert von Mark Livingston. Übersetzung aus dem Englischen: Giannis Mavris.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch