Was uns der «Vagabund» über Charlie Chaplin sagt
Der 100. Geburtstag des "Kleinen Vagabunden" (Little Tramp) von Charlie Chaplin wird dieses Jahr auf allen fünf Kontinenten gefeiert. In der Schweiz, wo Chaplin die letzten 22 Jahre seines Lebens verbracht hat, zeigt eine grosse Ausstellung den Schauspieler in einem neuen Licht.
1914 schnappt sich ein 25-jähriger britischer Varieté-Künstler, der in den USA seit Kurzem bei einer Filmgesellschaft angestellt ist, in einer Kostüm-Garderobe eine Pumphose, ein enges Jackett, eine Melone und einen Gehstock, setzt sich einen schmalen Schnurrbart auf und stellt sich vor die Kamera.
Damit hatte Charlie Chaplin die liebenswürdigste und beständigste Charakterfigur der Stummfilmära erfunden.
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Charlie Chaplin in Hochform
Für die 100-Jahrfeier des «Vagabunden» zeigt das Fotomuseum Elysée in Lausanne seltene Dokumente des Chaplin Fotoarchivs, die über den Menschen genau so viel aussagen, wie über die Zeit, in der er lebte.
Zwischen zwei Weltkriegen
Der «Vagabund» wurde zu Beginn des Ersten Weltkriegs erfunden und machte Chaplin über Nacht zum Star. Während er im Komfort der US-Filmindustrie in einem burlesken Film nach dem anderen auftrat, zog sein Land in den Krieg.
Chaplin wurde stark kritisiert, weil er nicht heimkehrte, um seine Landsleute im Kampf zu unterstützen. Die gleiche Kritik gegen ihn flammte auch während des Zweiten Weltkriegs wieder auf.
Die Absicht der Ausstellung «Chaplin zwischen Kriegen und Frieden» (1914-1940) sei es, Chaplins Antwort auf die Kontroverse zu beleuchten, sagt Carole Sandrin, Kuratorin des Charlie Chaplin Fotoarchivs am Elysée Museum.
Diese zeigte sich in Form der beiden Filme «Gewehr über» (Shoulder Arms) von 1918, ein riesen Erfolg, bei dem komische Situationen verwendet wurden, um den Horror in den Schützengräben zu zeigen, und «Der grosser Diktator» (The Great Dictator) von 1940, in dem Chaplin keck Hitlers Possen imitiert.
Das Museum fügt Originalabzüge und seltene Dokumente aus dem Charlie Chaplin Archiv zusammen, die teilweise aus Dokumenten bestehen, die Charlies Bruder Sydney und Halbbruder Wheeler Dryden über die Jahre akribisch gesammelt haben. «Sie hatten von Anfang an gemerkt, dass Charlie dem Jahrhundert seinen Stempel aufdrücken wird», sagt Sandrin.
Die vom The Chaplin Project at Cinetecca de Bologna in Italien während einer Periode von 10 Jahren gescannten und katalogisierten Papierarchive befinden sich nun in Montreux am Genfersee. Die 20’000 Fotodokumente wurden 2011 dem Museum Elysée übergeben.
Die Elysee-Ausstellung, die sich auf die Zeit zwischen 1918 – als Chaplin sein eigenes Studio errichtete und seine Archive ihren Anfang nahmen – und 1940 konzentriert, zeigt Chaplin als einen Künstler, dem die Tragödien des Kriegs nicht gleichgültig waren, wie seine Kritiker glaubten, sondern, der seine eigenen Strategien verfolgte, um Widerstand zu leisten.
Zu Ehren des Geburtstags des «Vagabunden» von 1914, als Chaplin gerade von Keystone Film Studios angestellt wurde, publizieren das Museum Elysée und Editions Xavier Barras die originalgetreue Nachbildung eines Unikats, das Sandrin in den Chaplin Archiven gefunden hat.
Das «Keystone Album» reproduziert die Bilder von 29 der insgesamt 36 Kurzfilme, die Chaplin allein 1914 machte. Es war vor über 70 Jahren vom britischen Filminstitut erstellt worden, um die Authentizität von Chaplins Filmen zu sichern, in einer Zeit, als inoffizielle und oft verfälschte Kopien sich zu vermehren begannen.
Das Album zeigt das hohe Tempo, mit dem Chaplin arbeitete, und offenbart die Vielfalt seiner Gestik, dem Markenzeichen, das aus Chaplin ein universales Idol machte.
Die Association Chaplin wurde 1996 von Mitgliedern der Familie Chaplin gegründet, um Chaplins Werke zu schützen. Dies im Namen der «Roy Export Company Establishment», welche die Urheberrechte und andere wichtigen Rechte von allen Filmen besitzt, die Chaplin ab 1918 drehte, und «Bubbles Inc», welche die Verkaufsrechte von Chaplins Namen und Bildern hat.
Das Jahrhundert prägen
«Mit der Zeit verkörperte die Figur des bezaubernden kleinen Vagabunden nicht nur den schelmischen und unverwüstlichen Charakter der Filme, sondern auch Chaplins Humanismus, Humor und Modernismus», begründet Kate Guyonvarch, Direktorin der Chaplin Association, welche die Marke und das Werk des Künstlers schützt, den anhaltenden Erfolg.
Obwohl sie während langer Zeit mit Chaplins Nachlass verbunden war, sagt Guyonvarch, dass die Jubiläumsfeier es «uns ermöglicht, sowohl den Menschen zu verstehen, als auch die Art und Weise, wie er arbeitete.
Der Weg in die Schweiz
Charles Spencer Chaplin (1889 – 1977) wurde in London geboren. Seine Karriere als Schauspieler begann bereits in jungen Jahren in der englischen Music Hall. Als er in Amerika auf Tournee war, wurde ihm 1914 ein Vertrag für seinen ersten Film angeboten. Dieser wurde zum weltweiten Erfolg. Ab 1917 war Chaplin so erfolgreich, dass er in Hollywood ein eigenes Studio gründete, wo er bis 1952 Filme produzierte. Als ihm die Wiedereinreise in die USA wegen des politischen Klimas verweigert wurde, liess er sich mit seiner Familie in der Schweiz nieder.
Chaplin war einer von wenigen Schauspielern, die fast alle eigenen Filme selbst produzierten und finanzierten. Und er war auch Autor, Direktor und Komponist.
Das Chaplin Museum soll seine Tore 2016 im Manoir de Ban in Vevey öffnen, wo Chaplin mit seiner Familie lebte, als er sich in der Schweiz niederliess.
Das Chaplin Archiv wird im Januar 2015 von Taschen-Verlag im XL-Format herausgegeben.
David Robinson, Chaplins autorisierter Biograf, hat soeben «The World of Limelight» herausgegeben.
Die Association Chaplin wurde 1996 von Mitgliedern der Familie Chaplin gegründet, um Chaplins Werke zu schützen. Dies im Namen der «Roy Export Company Establishment», welche die Urheberrechte und andere wichtigen Rechte von allen Filmen besitzt, die Chaplin ab 1918 drehte, und «Bubbles Inc», welche die Verkaufsrechte von Chaplins Namen und Bildern hat.
Sie ist überzeugt, dass Chaplins Tatkraft und unerbittlicher Perfektionismus in dessen schwieriger Kindheit entstanden ist. Nach dem Tod seines Vaters musste er sein Leben schon ab dem Alter von zehn Jahren selber verdienen. Der fragile mentale Zustand seiner Mutter machte es ihr unmöglich, sich um Charlie und dessen älteren Bruder Sydney zu kümmern.
Der politische Versuch
Laut Guyonvarch gab Chaplin das Filmgeschäft fast auf, als die Tonfilme eingeführt wurden. «Er hatte sich seinen Ruf mit dem «Vagabunden» gemacht und wusste, dass er diesen nicht zum Sprechen bringen konnte.»
1928 drehte er den Stummfilm «Lichter der Grossstadt» (City Lights), ein Jahr, nachdem der erste Tonfilm gezeigt worden war. Während einer einjährigen Promotionstour rund um die Welt führten ihn die Selbstzweifel an der Zukunft des «Vagabunden» zu neuen Engagements.
«Ich wünschte, Charlie bliebe immer in heiterer Stimmung, er ist so ernst geworden», schrieb sein Bruder Sydney. «Derzeit schreibt er einen Artikel darüber, wie die Probleme Deutschlands mit den Kriegsschulden zu lösen sind. Seine Lösung ist wirklich bemerkenswert und so einfach, dass ich nicht verstehe, weshalb vorher niemand darauf gekommen ist.»
Guyonvarch vermutet, dass Chaplin zu dieser Zeit eine politische Karriere in Betracht gezogen hat. Sie verweist auf einen Ausschnitt eines Interviews im Londoner Daily Telegraph, in dem Chaplin erklärte, dass er am liebsten ins Parlament gewählt werden würde.
Es kursiere die gängige Meinung, dass Chaplin die Karriere von Paulette Goddard lancierte, als er nach Hollywood zurückkehrte. Aber laut Guyonvarch hätte es auch andersrum sein können, nämlich, dass die «wirblige und dynamische Goddard Chaplin wieder auf Kurs brachte!». Schliesslich wagte Chaplin den Sprung zum Tonfilm.
«Er war wirklich überall und ist es immer noch», sagt sie. Rund um die Welt finden zum 100. Geburtstag des «Vagabunden» mehr als 100 bekannte Veranstaltungen statt.
(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)
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