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Was uns Skelette über die alten Römer verraten

Drei Skelette im Boden
Die in den antiken Totenstädten von Avenches gefundenen Skelette verraten nach ihrer Analyse einiges über die Lebensbedingungen der Bewohner der ehemaligen Hauptstadt des römischen Helvetiens. Site et Musée romains d'Avenches

Neue, interdisziplinäre Skelettstudien ermöglichen ein umfassenderes Bild vom Alltag und der Gesundheit der Bewohner von Aventicum, der ehemaligen Hauptstadt des römischen Helvetiens. Das Römermuseum in Avenches zeigt die Ergebnisse dieser Forschungen in einer Sonderausstellung. 

Die aktuelle Ausstellung in Avenches hätte durchaus «Bones» heissen können, in Anlehnung an die amerikanische Fernsehserie, in der die brillante Heldin durch das Studium menschlicher Knochen die unterschiedlichsten Kriminalfälle löst. Die Verantwortlichen des Römermuseums in Avenches liessen sich jedoch von einer anderen amerikanischen Serie inspirieren und nannten sie «Die Experten in Aventicum».

Eine Studie, wie es noch keine gab

Mit dem Titel würdigen sie das Forschungsteam, das drei Jahre lang 169 Skelette untersuchte, die vom 1. bis zum 3. Jahrhundert n. Chr. in vier Friedhöfen der antiken römischen Hauptstadt bestattet worden waren – ein Nationalfonds-Projekt, das unter der Leitung der griechischen Anthropologin Chryssa Bourbou stand.

Die meisten Knochen wurden vor einigen Jahren schon einmal untersucht. Mit der damaligen Technik konnte man das Geschlecht, die Statur und das ungefähre Alter der Verstorbenen bestimmen. Auch bestimmte Verletzungen oder Pathologien waren erkennbar. Aber das ist kein Vergleich zu den neuen wissenschaftlichen Verfahren, die um ein Vielfaches weiter gehen.

«Es wurden neue chemische oder biochemische Technologien eingesetzt, die es vor zehn oder fünfzehn Jahren noch nicht gab», sagt Sophie Bärtschi Delbarre, Kuratorin des Römermuseums in Avenches über die Forschungen. «Diese chemischen Analysen erlauben es, bestimmte Dinge im Detail zu verstehen, insbesondere hinsichtlich der Ernährung.»

Prägend für die jüngsten Untersuchungen ist aber auch ihr multidisziplinärer Ansatz. Um mehr über die Skelette herauszufinden, wurden viele Disziplinen gleichzeitig beigezogen: Archäologie, Anthropologie, Bioarchäologie, Archäozoologie, Archäobotanik, Paläolimnologie (Untersuchung von Seen und Sedimenten), Paläohistologie usw. Noch nie zuvor war ein Ausgrabungsstandort in der Schweiz Gegenstand so umfangreicher Untersuchungen.

Hohe Risiken im jungen Alter

Eine Erkenntnis aus den Studien betrifft die hohe Säuglingssterblichkeit. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war es «normal», dass etwa die Hälfte der Kinder das fünfte Lebensjahr nicht erreichte. Im römischen Avenches war die Quote jedoch noch höher.

Die Zeit der Geburt und die ersten Tage und Monate waren die kritischsten. Die Untersuchung von 93 Kinderskeletten zeigt, dass fast 82% im ersten Lebensjahr starben, 71% davon um die Geburt herum. Es scheint, dass der Gesundheitszustand der Mütter den Gesundheitszustand der Föten und Neugeborenen direkt beeinflusste, wobei die Mütter eigene Defizite über die Plazenta und die Milch weitergaben.

Das Plakat zur Ausstellung
Das Plakat zur Ausstellung «Experten in Aventicum». Site et Musée romains d’Avenches

«Die Analysen der Skelette haben Vitaminmängel offen gelegt, vor allem fehlte es an Vitamin C und D, was Skorbut oder eine angeborene Rachitis verursachen kann», sagt Sophie Bärtschi. «Die Mütter könnten auch durch Parasiten geschwächt worden sein. Wir wissen nicht genau, was die Ursache für diese überhöhte Kindersterblichkeit war. Aber möglicherweise lag es an den grossen Malariawellen – die Region war zu dieser Zeit sehr sumpfig -, die vor allem schwangere Frauen betrafen.

Auch die Entwöhnung von der Brust, die laut der Skelettstudie um das dritte Lebensjahr herum stattfand, war eine risikoreiche Zeit. Ergänzungsnahrung konnte die kleinen Kinder Krankheitserregern aussetzen und das zu einem Zeitpunkt, an dem sich ihr Immunsystem noch entwickelte.

Kein Müssiggang

Auch wenn man die Hürde der Kindheit überwunden hatte, war das Leben nicht plötzlich ein Zuckerschlecken. Es ist eine verbreitete Vorstellung, dass  römische Bürger den Müssiggang pflegten, ihr Leben in den Bädern, im Amphitheater, im Theater oder auf der Rennbahn verbrachten, während die Sklaven die harte Arbeit leisteten. Doch die Skelette von Avenches lassen auf einen etwas weniger idyllischen Alltag schliessen.

Sie zeigen oft Gelenkerkrankungen, die Rückschlüsse zulassen. In Avenches waren die Wirbelsäule und bestimmte Gelenke wie die Hüfte am häufigsten von Arthrose betroffen, deren Hauptursachen das Alter und der Verschleiss durch tägliche Aktivitäten sind.

Andere Spuren wie Frakturen, Läsionen oder die abnorme Abnutzung bestimmter Zähne weisen auf gefährliche oder sich wiederholende Aktivitäten hin. In manchen Fällen lassen die Knochen sogar Rückschlüsse auf die konkrete Tätigkeit des Verstorbenen zu.

«Wir haben das Skelett eines 20 bis 30 Jahre alten Mannes mit einer Wucherung im Ohr ausgestellt», sagt Sophie Bärtschi. «Diese Art von Wachstum tritt bei Menschen auf, die in regelmässigem Kontakt mit kalter Luft oder kaltem Wasser sind. Stabile Isotope zeigen auch, dass dieser Mann hauptsächlich Seefisch ass.» Laut Bärtschi lässt sich so erahnen, dass er ein Fischer gewesen sein muss. Es sei eine bewegende Erkenntnis: «Plötzlich hat man es nicht mehr mit einem Skelett, sondern mit einem Leben zu tun.»

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Bezüge zur Gegenwart

Heute ist viel von Umweltverschmutzung und Abholzung die Rede. Die in Avenches durchgeführten Analysen zeigen nun, dass diese Probleme bereits in der Römerzeit bestanden. Die intensive handwerkliche und industrielle Tätigkeit in Avenches, wie die Herstellung von Glas und Textilien, hat die Umwelt durch die Freisetzung von Stoffen wie Blei stark belastet.

Kleiner Krug
Kleiner Krug mit Bleiglasur, gefunden in einer der Totenstädten von Avenches. Site et Musée romains d’Avenches

So haben Entzündungen in den knöchernen Nasenhöhlen der Skelette Spuren hinterlassen. Da die Nasennebenhöhlen die erste Verteidigungslinie des Körpers gegen potenziell pathogene Stoffe von aussen sind, deutet das Vorhandensein vieler Nasennebenhöhlenentzündungen auf Umwelteinflüsse hin.

Und wenn uns die Coronavirus-Pandemie daran erinnert hat, dass zu viel Nähe zu Tieren und zu wenig Hygiene zu gesundheitlichen Problemen führen kann, dann gibt es auch hier eine Verbindung zu den Menschen in Avenches. Zum Beispiel deuten verkalkte Zysten in den Skeletten auf parasitäre Infektionen hin, die eine Folge von zu grosser Nähe zu Tieren oder mangelnder Hygiene bei der Nahrungszubereitung sein können. Kurz gesagt, nihil novi sub sole – nichts Neues unter der Sonne.

Marc Leutenegger

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