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Weiberherrschaft und historische Milizen

Der Umzug der Milizen in Bellinzona zur Feier ihres 200-jährigen Bestehens. ti-press

In den letzten zwei Jahren hat die Schweiz sich mit ihren "lebendigen Traditionen" auseinandergesetzt: Es ging darum, welche Sitten und Bräuche im Rahmen eines Unesco-Abkommens einen Platz auf einer nationalen Liste verdienen.

Die Staaten, die das Unesco-Abkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes ratifiziert haben, sind verpflichet, eine solche Liste zu erstellen.

Die Ethnologin Ellen Hertz von der Universität Neuenburg ist Co-Leiterin eines Forschungsprojekts, das untersucht, wie die Schweiz dieser Verpflichtung nachgekommen ist. Wie andere Länder, versuche die Schweiz, sich gegen einen oft empfundenen Trend der Gleichmacherei durch die Globalisierung zu stemmen, sagt Hertz im Gespräch mit swissinfo.ch: «Wenn wir einen Schritt zurück machen und diese Liste betrachten, kann man etwa fragen: ‹Was ermöglicht es den Leuten, nicht von einer Welle der Macdonaldisierung weggefegt zu werden und sich dort verwurzelt zu fühlen, wo sie sind?'»

Um zu ergründen, welche Bedeutung traditionelle Bräuche für die Leute haben, die dabei mitmachen, hat swissinfo.ch zwei solche Veranstaltungen besucht. Beide stehen auf der nationalen Liste, beide feierten 2012 ein Jubiläum.

Weiberherrschaft

Im Januar feiern die Frauen der Aargauer Dörfer Fahrwangen und Meisterschwanden den «Meitlisunntig» (Mädchensonntag). Der Brauch geht auf den zweiten Villmergerkrieg von 1712 zurück.

In dem Krieg standen sich katholische und reformierte Kantone gegenüber. Mündlicher Überlieferung zufolge waren die Frauen laut lärmend durch die Wälder gezogen und hatten so zum Sieg der reformierten über die katholischen Kräfte beigetragen. Als Dank erhielten die Frauen vom Berner Heeresführer drei Tage, an denen sie die Herrschaft über die Männer hatten.

Auch die Organisatorinnen sind sich nicht ganz sicher, was an der Geschichte wahr ist und was Legende. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass die Meitlisunntig-Vereinigungen, die für die Organisation der Veranstaltungen in den beiden Dörfern zuständig sind, 1912 gegründet wurden, in einer Zeit, als der Kampf für Frauenrechte in der ganzen Welt zunahm.

Viel Enthusiasmus

Wie auch immer, es ist ein Festival, das mit viel Enthusiasmus über die Bühne geht. Die Frauen ziehen durch die Gaststätten, offerieren den Männern zu trinken, fordern sie zum Tanze auf. Ausgesuchte Männer werden mit grossen Netzen eingefangen und in die nächste Gaststätte geschleppt, wo sie sich wieder frei kaufen müssen.

Die Idee hinter dem Fest sei grundsätzlich gleich geblieben, doch die Einstellungen hätten sich im Lauf der Zeit verändert, erklärt Andrea Sandmeier, Präsidentin des Fahrwangener Organisationskomitees, gegenüber swissinfo.ch. Die Männer hätten nicht immer so viel dafür übrig gehabt.

«Meine Schwiegermutter hatte in ihrer Jugend mit ihren Freundinnen an der Parade und dem Fest teilgenommen. Doch als sie geheiratet hatte und Mutter wurde, war Schluss damit. Sie hatte keine Zeit mehr, zudem wollte ihr Mann nicht, dass sie weiter mitmachte.»

Tatsache oder Fiktion?

An einen ganz anderen Krieg, 100 Jahre später, erinnern historische Milizen im Bleniotal im Tessin: Es geht um den verheerenden Russland-Feldzug Napoleons 1812, insbesondere um die Schlacht an der Beresina.

Gekleidet in alte Militäruniformen ziehen die Männer von Leontica, Aquila und Ponto Valentino an den Festen zu Ehren der jeweiligen Schutzheiligen ihres Dorfes mit Trommeln durch die Strassen und feuern ihre Gewehre ab (mit Platzpatronen).

Es wird erzählt, dass die Männer aus dem Tal, die an der Beresina-Schlacht beteiligt waren, ein Gelübde abgelegt hatten: Falls sie heil zurückkommen würden, würden sie sich in Zukunft in Uniform an den Prozessionen zu Ehren der Schutzheiligen beteiligen.

Jüngere Forschungen deuten jedoch darauf hin, dass wahrscheinlich niemand aus der Region wirklich an der Beresina-Schlacht beteiligt gewesen war.

Damiano Robbiani vom Archiv der Stadt Lugano ist einer der Autoren eines neuen Buches über die historischen Milizen. Im Gespräch mit swissinfo.ch sagt er, im frühen 19. Jahrhundert habe es im ganzen Kanton ähnliche Prozessionen gegeben – ohne damit verbundene Geschichten von Gelöbnissen.

«Sie waren einfach stolz, zur Messe und für das religiöse Dorffest eine Uniform zu tragen», erklärt Robbiani. Dies sei auch Ausdruck der neugefundenen Identität des Kantons gewesen, nach Jahrhunderten, während denen verschiedene Teile des Tessins unter der Herrschaft von Kantonen aus der Deutschschweiz gestanden waren.

Lebendige Tradition

Eduard Nolli ist Kommandant der Miliz von Ponto Valentino. Er akzeptiert, dass es schwierig sei, zu wissen, was genau passiert sei. Aber das spiele nicht wirklich eine Rolle.»Die Miliz ist aus etwas heraus entstanden, und wir wollen damit weiterfahren», erklärt Nolli gegenüber swissinfo.ch.

Die Tradition ist bis heute sehr lebendig geblieben. Als Nolli im Alter von 13 Jahren anfing, hatte die Miliz 39 Mitglieder. Heute sind es 60 – so viele, dass sie kaum noch in der Dorfkirche Platz haben.

In Leontica war der Jüngste der Miliz in diesem Jahr 8, der Älteste 72. Auch Denys Gianora, Präsident der Miliz von Leontica, seit 45 Jahren mit dabei, macht sich wegen der jüngsten Studienergebnisse keine Sorgen. «Historiker haben ihre Theorien, ich meine. Wir sind hier 40, und 120 insgesamt in den drei Gruppen. Ich denke nicht, dass das aus dem Nichts gekommen ist.»

Höhepunkt des Jahres  

Der Trommler Delio Baretta wurde in Leontica geboren und arbeitete später als Küchenchef in der ganzen Welt. Heute lebt er rund 60 Kilometer vom Dorf weg. Mit nur wenigen Stellen im Tal ist er bei weitem nicht der einzige, der wegziehen musste, um Arbeit zu finden.

Das ist ein Grund, wieso ihm diese Tradition so am Herzen liegt – und es ihm andererseits nicht so wichtig ist, ob die Geschichte mit dem Gelübde wahr ist oder nicht.

«Es ist der Höhepunkt des Jahres für mich. Es erinnert mich an meine Jugend, seit 1975 mache ich mit. Es ist immer sehr schön, hierher zu kommen, Leute zu treffen, mit denen ich zur Schule ging. Es ist eine Reise in die Vergangenheit.» Der alte Brauch sei Teil der Menschen, die in Leontica geboren seien; allein das zähle, unterstreicht Baretta.

Hertz verweist darauf hin, aus der Sicht von Anthropologen sei ein grosser Teil des menschlichen Verhaltens traditionell, insofern, als sehr viel von dem was wir tun, auf dem fusst, was andere vor uns getan haben.

«Wieso also stossen gewisse Dinge auf besonderes Interesse und werden als ‹Traditionen› bezeichnet, während andere Dinge einfach als gegeben hingenommen werden, entweder, weil sie nicht bedroht sind – oder weil sie einfach verschwinden, wie etwa Briefe?»

Nachdem die Schweiz 2008 das Unesco-Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes ratifiziert hatte, war sie verpflichtet, eine nationale Liste dieses Erbes zu erstellen.

Die Unesco hat für das immaterielle Kulturerbe fünf Kategorien geschaffen: «Gesellschaftliche Praktiken», «Darstellende Künste», «Mündliche Ausdrucksweisen», «Traditionelles Handwerk» sowie «Umgang mit der Natur».

Es gibt kein Unesco-Gütesiegel für die nationale Liste, doch nur Traditionen, die auf der Liste aufgeführt sind, können später für die Aufnahme in die internationale Liste der Unesco nominiert werden.

Es wird damit gerechnet, dass die Schweizer Regierung nach einem Verfahren, das mindestens 18 Monate dauern dürfte, der Unesco drei oder vier Traditionen zur Aufnahme vorschlagen wird.

Die Zusammenstellung der Vorschläge für die Aufnahme in die nationale Liste wurde in der Schweiz den Kantonen übertragen.

Damit eine Tradition in Betracht gezogen werden konnte, muss sie mindestens 60 Jahre (drei Generationen) bestanden haben oder sehr stark in der lokalen Gemeinde verankert sein.

Auf der im Oktober 2011 gutgeheissenen nationalen Liste finden sich nun 167 Traditionen.

Die Kantone hatten auch die Aufgabe, Dossiers mit Fotos – und wo relevant mit Video- und Audiodokumentationen – zusammenzustellen. Im September 2012 wurde die Liste mit den Dossiers vom Bundesamt für Kultur online geschaltet.

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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