Wenn das Talent das Handicap überwindet
Sie arbeiten in Ateliers, stellen ihre Werke aus und verkaufen sie, so wie andere Künstler auch. Das Experiment CREAHM in Freiburg ermöglicht physisch und psychisch behinderten Künstlern, ihr Talent zu zeigen. Ein Augenschein.
Das Atelier befindet sich ein wenig versteckt hinter der Ecole de Cormanon am Stadtrand von Freiburg. Schade, dass es nicht zentraler gelegen ist, zumal Werke von 18 Künstlern zu sehen sind, die hier ein bis drei Tage pro Woche arbeiten.
Der helle, grossflächige Raum, den die Kirchgemeinde für ein Trinkgeld vermietet, bietet ausreichend Platz für ein geordnetes Durcheinander von Staffeleien, Tischen, Farbtöpfen, Pinseln, Gemälden und Kunstbüchern.
Heute sind sie zu acht. Ihre Werke präsentieren die Künstler am Küchentisch, wo Kaffee und Kekse angeboten werden. Danach nimmt jeder wieder seinen Platz ein. Einige können sprechen, andere nicht.
Elmar Schafer ist Rollstuhlfahrer. Er malt mit dem Kopf, mithilfe eines Pinsels, der an einem Helm fixiert ist. Seine Gemälde sind voller Lebendigkeit. Jeder ist hier in seiner eigenen Welt, es herrscht eine besondere Stille voller Verbundenheit und Konzentration.
Professioneller Rahmen
Das Kürzel CREAHM (Créativité et handicap mental) steht für ein Konzept, das talentierten, psychisch und physisch behinderten Personen professionelle Bedingungen für ihre bildende Kunst bieten will.
«Ich finde diese Art zu arbeiten interessant. Vor allem die Idee, dass es in dieser Gruppe, wie bei andern auch, Leute mit Talent gibt, denen man Raum geben muss. Es geht nicht um gesundheitliche Probleme, man arbeitet unter Kollegen. Wenn es nötig ist, hilft man sich gegenseitig», sagt Ivo Vonlanthen, Mit-Initiator des Ateliers.
«Wir machen nicht Maltherapie. Es geht nicht darum, eine Diagnose zu stellen, oder Heilung durch Kunst zu erreichen. Hier erhält man technische Ratschläge, es stehen Kunstbücher zur Verfügung, wir haben auch ein Mandat», ergänzt Animatorin Gisèle Poncet.
«Die Künstler nehmen an einer Versuchsphase teil, bevor sie ihren Vertrag unterzeichnen. Sie müssen bestimmte Kriterien erfüllen, eine Qualitätsarbeit ausführen, die sich dem Publikum zeigen und verkaufen lässt.»
Jean-Michel Robert, der selber Künstler ist, geht den behinderten Kollegen zur Hand. «Es herrscht viel Dynamik. Man muss Rahmen herstellen, die Farbtuben kneten, die Pinsel fixieren für jene, die nicht mit der Hand arbeiten können. Die Werke haben oft viel Originalität, Freiheit und Kraft. Der Mensch steht im Mittelpunkt des Auszudrückenden, mit seinen Leiden, Ängsten, Freuden. In dieser Beziehung gibt es keinen Unterschied zu meiner eigenen Arbeit.»
Der Arbeitsplatz von Myriam Schoen bildet ein Atelier im Atelier. Ihre dynamischen und farbigen Kompositionen stellen imaginäre Landschaften dar, durchdrungen von den vier Elementen. Mit Stolz zeigt sie den Besuchern eine stattliche Anzahl ihrer Werke.
Sie komme an drei Tagen pro Woche ins CREAHM, erklärt sie mit Unterstützung eines Sprechgeräts. Einmal wöchentlich arbeite sie zudem in einem Atelier in Bern. «Ich muss mich auf den Weg machen, um den Zug nicht zu verpassen», sagt sie und zieht ihren Koffer auf Rollen hinter sich her.
Etwas weiter hinten faltet Josiane Lauper die Seiten einer Illustrierten, die sie an eine hohe Metallpike steckt und zu einer Papierskulptur formt. Auf ihrer Staffelei wartet eine sorgfältig bemalte Leinwand auf weitere schnelle, regelmässige Pinselstriche.
«Die autistische Künstlerin beeindruckt mich sehr durch ihre Fähigkeit, sich total in ihre Schöpfung zu vertiefen, sich mit ihr zu vereinen. Sie hat mir sehr viel gegeben, weil ihre Arbeiten unglaubliche Dinge preisgeben», sagt Ivo Vonlanthen.
Der 31-jährige Stéphane Repond – er verfügt über eine ausgeprägte Vorstellungskraft und eine breite Palette von Ausdrucksformen und Techniken – zeichnet gerade mit Kreide eine fantastische Kreatur.
«Seit meinem 20. Lebensjahr leide ich unter Schizophrenie.» Mehrere Perioden seines jungen Lebens hat er im Spital verbracht . «2005 habe ich zum Zeitvertrieb mit Malen angefangen. Jetzt ist es meine Leidenschaft geworden.»
Stéphane hat soeben an einem «unvergesslichen, fruchtbaren und fabelhaften» Aufenthalt in einem angeschlossenen Atelier in Tschechien teilgenommen. Gemeinsam mit fünf andern Mitgliedern des CREAHM sowie 6 gesunden Künstlern – ein Projekt von sechs Duos – bereitet er sich auf die Ausstellung «Fuori Dentro» (draussen / drinnen) vom November dieses Jahres vor.
Keine Frage der Wohltätigkeit
CREAHM bestimmt die Preise (eine Hälfte erhält der Künstler, die andere das Atelier). Sie sind für alle Künstler gleich. «Einige verkaufen mehr, andere weniger, das ist normal. Véronique Bovet zum Beispiel, die im letzten Jahr gestorben ist, hat alle ihre Werke verkauft. Die Collection d’art brut de Lausanne hat mehrere ihrer Werke erworben. Aber die Ausstellung unterstützt die gesamte Gruppe. Es gleicht sich aus, ohne Neid», sagt Sylvie Genoud, Sekretärin der Vereinigung.
Die Verkäufe gestalten sich schwierig. Die grössten Formate kosten etwas mehr als 1000 Franken. An öffentlichen Stätten auszustellen, ist kein Problem, auch nicht im Ausland. Schwierig ist es, private Galerien zu finden, die bereit sind, die ganze Equipe, also auch jene zu akzeptieren, die weniger gut verkaufen.
Aber einige Ateliers machen mit und stellen sogar ohne Gegenleistung aus. Zum Beispiel die Galerie de la Schürra. «Ob es wegen ihrer Arbeit ist oder ihrer Person, ich mag diese Künstler. Sie verstehen sich als vollamtliche Künstler, und sie erhalten keinerlei öffentliche Unterstützung. Ich finde, man sollte ihnen helfen», sagt der Inhaber Nicolas de Diesbach, der ebenfalls Mitglied im Komitee CREAHM ist.
«Anfänglich war das Publikum vielleicht etwas gönnerhaft. Aber die Leute sind wie bei andern Ausstellungen gekommen und fast alles wurde verkauft. Aber es sind keine Wohltätigkeitsverkäufe. Die Leute kaufen, weil es ihnen gefällt. Auch junge Leute kaufen die Werke, weil die Preise in ihrem Budget liegen», sagt der Galerist.
«Erstaunlich ist für mich, dass diese Künstler in den fast 15 Jahren ihrer Linie, ihrer Inspiration und ihrer Welt treu geblieben sind, ohne sich beeinflussen zu lassen. Wenn 10 gesunde Künstler während dieser Zeit immer zusammenarbeiteten, würden sie am Schluss alle das Gleiche machen», vermutet Nicolas de Diesbach.
1982 hat Luc Boulangé das erste Atelier in Belgien gegründet. Er war überzeugt, dass psychisch und physisch behinderte Personen in der bildenden Kunst eine geeignete Ausdrucksform finden, einen Lebenssinn und eine Identität als Künstler, und dass man ihnen die Mittel dazu geben muss.
1998 haben Jean-Luc Lambert, Professor für Psychologie, und der Kunstmaler Ivo Vonlanthen die Freiburger Vereinigung gegründet. Die Existenz der Vereinigung hängt zu grossen Teilen vom Verkauf der ausgestellten Werke ab.
Die Kunst unterscheidet sich von andern Kunstformen nicht in erster Linie durch die Besonderheit der Künstler, sondern durch den Kontext, der die Kreation ermöglicht.
Die 18 Künstler im Alter zwischen 17 und 55 Jahren arbeiten vertragsgemäss 1 bis 3 Tage pro Woche im Atelier. Begleitet werden sie von zwei Animatoren.
Der Zusammenarbeits-Vertrag bestimmt den Preis. Eine Hälfte des Ertrags erhält der Künstler, die andere das Atelier. Das Atelier erhält keine öffentlichen Subventionen, aber Beiträge von der Loterie romande, von Sponsoren und Mitgliedern.
Das Jahresbudget beträgt 80’000 Franken (Miete, Löhne von 3 Personen, Material). Rund 20’000 Franken resultieren aus den Verkäufen der Werke.
Der Begriff wurde vom Französischen Maler Jean Dubuffet (1901- 1985) erfunden, um die Kunst von Autodidakten ohne kulturelle Bildung und sozialen Konformismus zu beschreiben.
Meistens waren es Kranke, Gefangene oder von der Gesellschaft Ausgeschlossene, die sich nicht um etablierte Kunstströmungen und traditionelle Kulturen kümmerten.
Ab 1945 sucht Jean Dubuffet Werke, die sich über kulturelle Normen hinwegsetzen. Er knüpft Verbindungen mit Schriftstellern, Künstlern und Psychiatern aus der Schweiz.
1971 nimmt Jean Dubuffet mit der Stadt Lausanne Kontakt auf, im Hinblick auf eine Schenkung. 1976 wird die Collection de l’art brut ins Leben gerufen.
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
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