Wenn der Vater dem Sohn im Rausch entgleitet
In "Beyond this place", der für den "Prix de Soleure" nominiert ist, versucht Regisseur Kaleo La Belle, sich auf einer Radtour seinem Hippie-Vater anzunähern. Dem sind jedoch Drogen wichtiger als sein Sohn. Ein Film über Freiheit und Verantwortung.
«Ich bin seit 40 Jahren stoned», sagt der 67-jährige Cloud Rock La Belle. Und er ist stolz darauf. Für ihn sind Drogen ein «Sakrament», ein «heiliges Mahl», das zur Erleuchtung führt.
Statt in den Vietnamkrieg zu ziehen, setzte er sich Ende der 1960er-Jahre auf die Hawaii-Insel Maui ab, wo er Guru einer Kommune wurde. Von da an war sein Leben mit Drogen und freier Liebe ausgefüllt und voller Freiheit.
Für seinen Sohn war der Vater vor allem eines: abwesend. Als Ganja, was so viel wie Marihuana bedeutet, 3 Jahre alt war, verliess seine Mutter mit ihm das «Paradies» und zog schliesslich in die amerikanische Industriestadt Detroit.
Danach sah Kaleo, wie er sich fortan nannte, seinen Vater nur noch zwei Mal: Mit 6 und mit 17 Jahren, als dieser ihn auf einen Drogen-Trip mitnahm, wobei er sich mit Cloud Rock nicht mehr verbunden, sondern nur isoliert fühlte.
Annäherungsversuch an einen «Fremden»
Ganze 17 Jahre später versucht Kaleo La Belle, mittlerweile selbst Vater von drei Kindern, eine neue Annäherung an diesen «Fremden», den er praktisch nur aus dessen Briefen voller Abenteuer kennt, und der heute in Portland lebt.
Diesmal nicht mit einem Drogentrip, sondern mit einer Fahrradtour durch den Nordwesten der USA zum Spirit Lake beim Vulkan Mount St. Helens – und mit der Kamera als Begleiter.
Kaleo nutzt die Reise, um seinem Vater die Fragen zu stellen, die ihn seit seiner Kindheit beschäftigen – doch diese scheinen an Cloud Rock abzuprallen wie an einem Fels, er empfindet sie höchstens als Angriff auf ihn und seinen Lebensstil.
«Wie siehst du deine Verantwortung gegenüber deinen Kindern?», «Hast du je überlegt, was deine Abwesenheit für mich bedeutete?», «Weshalb hast du mich nie besucht?», «Machst du es dir nicht zu einfach?» – diesen Fragen entgegnet Cloud Rock mit einem Lachen, das trotz seiner Coolness teilweise hilflos wirkt, und mit «Hippie-Philosophien» wie: «Du wählst dir deine Eltern selbst aus», «Im Leben geht es um Abenteuer und Spass – dass andere Leute auf der Welt leiden, heisst nicht, dass du auch leiden musst», «Wer sagt dir, nur die Familie zähle im Leben? Für mich zählt einzig das Individuum.»
Im Film trifft Kaleo auch seinen Halbbruder Starbuck, der auf Hawaii herumirrt und auf Friedhöfen übernachtet und der auf einem Trip hängengeblieben zu sein scheint. Cloud Rock hat mit Starbuck LSD genommen, als dieser 14 war.
Doch für den Vater ist klar: Drogen sind etwas Gutes, sie können nicht schaden. Cloud Rock sieht denn auch ein hohes Fieber und nicht Drogen als Grund für Starbucks Zustand.
Referate über Drogen
Lieber spricht Cloud Rock über Halluzinogene als über seine Vater-Sohn-Beziehung, und er verfällt mit zunehmendem Drogenkonsum in Monologe. Nachdem der begeisterte Velofahrer – der seit Jahren wöchentlich rund 400 Kilometer zurück legt – mit seinem Rennrad einen Hang hinauf gerast ist, referiert der körperlich äusserst fit wirkende alt Hippie im Velodress und mit Velohelm über die stimulierende und Sinne schärfende Wirkung von Pilzen.
Pilze, LSD und Marihuana – der Vater entgleitet dem Sohn ununterbrochen in seine eigene Welt. Statt etwa abends vor dem Zelt nach der jahrzehntelangen Trennung die Zeit mit seinem 34-jährigen Sohn zu teilen, zieht Cloud Rock lieber an seiner Pfeife und schwebt im Marihuana-Rausch davon.
Trotz der gemeinsamen strapaziösen Fahrradreise durch die einsamen Weiten Nordwestamerikas scheint zwischen Vater und Sohn bis am Schluss keine richtige Nähe zu entstehen.
Der Film hat jedoch etwas Versöhnliches, etwa wenn Kaleo am Schluss sagt: «Weshalb empfinde ich Liebe für Cloud Rock? Ich möchte wütend auf ihn sein, doch ich kann es nicht.»
Fehlende Selbstkritik
Indem er die Frage nach Verantwortung und Freiheit ins Zentrum seines Films stellt, zeigt Kaleo die Rücksichtslosigkeit der Hippie-Generation auf.
«Es geht im Film jedoch keineswegs um eine Abrechnung mit meinem Vater, sondern darum, unsere Beziehung zu ergründen», sagt Kaleo La Belle, der heute in Luzern lebt, gegenüber swissinfo.ch.
Das Bild, das er von seinem Vater hatte, hat sich für Kaleo während der Reise verändert. «Ich war sehr überrascht von seiner fehlenden Selbstkritik. Dadurch hat er einen engen Blick auf mich und die Welt – das steht für mich im Widerspruch zur freidenkenden Hippie-Philosophie.»
Der Regisseur will die Hippie-Generation nicht grundsätzlich verurteilen, auch ist er für eine offene Drogenpolitik – es ist ihm sehr wichtig, dass Menschen, die Drogen nehmen, nicht kriminalisiert und wie etwa sein Vater bei der Verwandtschaft in Detroit zum Tabu-Thema werden.
Für Kaleo ist klar: Die Frage nach Freiheit und Verantwortung kann auch auf unsere Konsumgesellschaft übertragen werden: «Wie viel Freiheit verträgt eine Gemeinschaft, und wo geht sie auf Kosten anderer?»
An den Solothurner Filmtagen, die vom 20. bis 27. Januar stattfinden, sind folgende Filme für den mit 60’000 Franken dotierten «Prix de Soleure» nominiert:
«Beyond this place» von Kaleo La Belle (Dok)
«Cleveland versus Wallstreet» von Jean-Stéphane Bron (Dok)
«God no say so» von Brigitte Uttar Kornetzky (Dok)
«Die letzten Tage der Ceausescus» von Marcel Bächtiger (Dok)
«Bouton» von Res Balzli (Dok)
«Satte Farben vor Schwarz» von Sophie Heldman (Fiktion)
«How about love» von Stefan Haupt (Fiktion)
«La dernière fugue» von Léa Pool (Fiktion)
«Stationspiraten» von Michael Schaerer (Fiktion)
«All that remains» von Pierre-Adrien Irlé und Valentin Rotelli (Fiktion)
Der 1973 auf der Hawaii-Insel Maui geborene Kaleo La Belle lebte ab seinem 8. Lebensjahr in der US-Industriestadt Detroit.
Er studierte an der University for Electronic Arts und an der Hochschule Luzern Kunst und Film.
Er ist Regisseur der Dokumentarfilme «Crooked River» (2006) und «Beyond This Place» (2010).
Seit 1997 lebt der Vater von drei Kindern in Luzern.
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