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Wer hat Angst vor Meret Oppenheim?

Meret Oppenheim, 1975
Keystone

Lange wurde ihr Werk übersehen, heute gilt Meret Oppenheim als bekannteste Künstlerin der Schweizer Moderne. Eine grosse Wanderausstellung zeigt nicht nur ihr vielseitiges Œuvre, sondern auch ihren langen Kampf für die Gleichstellung in der Kunst.

Es war 1984, kurz vor ihrem Tod, als ihr Werk letztmals in voller Pracht gezeigt wurde. Fast 40 Jahre später widmet das Berner Kunstmuseum Meret Oppenheim (1913-1985) eine grosse Retrospektive. Die Schau ist nicht nur eine längst überfällige Hommage an die grosse Schweizer Künstlerin, die Namensgeberin für den prestigeträchtigsten Schweizer Kunstpreis ist, sondern erinnert auch daran, dass das Thema Geschlechter-Gleichstellung in der Kunst noch immer aktuell ist.

Oppenheims Haltung inmitten des auffallend machohaften Umfelds des Surrealismus der 1930er-Jahre ist sicherlich der auffälligste Aspekt von «Mon exposition».

Meret Oppenheim as younger woman and older woman
Links: Meret Oppenheim beim symbolischen «Frühstück im Pelz» im Schloss Bremgarten, in Bern, 1954. Rechts; Meret Oppenheim in ihrem Haus in Carona im Tessin, 1975. Keystone / Kurt Blum

Die Ausstellung wird als «erste transatlantische Retrospektive» angepriesen: Nach Bern, wo sie bis am 13. Februar 2022 besucht werden kann, wandert die Ausstellung von März bis September 2022 in die Menil Collection in Houston und von November 2022 bis März 2023 ins Museum of Modern Art (MoMA) in New York. Mit der Ausstellung im MoMA schliesst sich gewissermassen der Kreis: Es war der Erwerb von Oppenheims «Frühstück im Pelz» durch dieses Museum im Jahr 1936, welcher der damals 23-Jährigen internationale Anerkennung einbrachte.

Objet (Breakfast in Fur), 1936
«Frühstück im Pelz», 1936. Keystone / Monika Flueckiger

Ein feministisches Statement

Damals lebte sie noch in Paris – sie war mit 18 Jahren in die französische Hauptstadt gezogen. Bald trat sie dort in den Kreis der Surrealisten ein, in dem illustre Namen wie Alberto Giacometti, André Breton, Man Ray und Max Ernst verkehrten. Mit Ernst verband Oppenheim 1934 eine stürmische Affäre, welche die Schweizerin abrupt beendete. Es war vielleicht das erste feministische Statement innerhalb des surrealistischen Macho-Szene.

Max Ernst habe Beziehungen immer erst dann als beendet erklärt, wenn er sich dazu entschieden hatte, berichtete der Sammler Christoph Bürgi, ein langjähriger Freund Oppenheims, bei der Eröffnung der Ausstellung. Doch Oppenheim war das egal. Sie schuf 1934 sogar ein Bild, das ihre Geschichte mit Ernst kryptisch definiert: «Husch-husch, der schönste Vokal entleert sich. M.E. par M.O.».

Hush Hush
«Husch-husch, der schönste Vokal entleert sich. M(ax). E(rnst). von M(eret). O(ppenheim)», 1934. (c) Kunstmuseum Bern, Schweiz, Alle Rechte Vorbehalten / (c) Museum Of Fine Arts Bern, Switzerland, All Rights Reserved

Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg zog Oppenheim in die Schweiz und heiratete Wolfgang La Roche. Sie stürzte in eine tiefe Depression und dachte über ihr Leben und ihre Karriere nach. Allmählich brach sie mit den Surrealisten und begann, sich mehr für jüngere Künstler:innen zu interessieren, die in den 60er-Jahren aufkeimten.

Ein TV-Beitrag aus den Archiven des Schweizer Fernsehens zeigt Oppenheim in ihrem Atelier 1963. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich von den Tiefpunkten der vergangenen Jahre erholt. Sie arbeitete an der späteren Skulptur «Idol», die als Übergang von ihrer surrealistischen Erziehung zu einer individuelleren und selbstbewussteren Praxis betrachtet werden kann und mit der Pop Art kokettiert. 

Das wilde Bern

Zu dieser Zeit entwickelte sich Bern überraschenderweise zum angesagtesten Kunstzentrum der Schweiz, das eng mit den anderen wichtigen gegenkulturellen Brennpunkten Europas und der USA vernetzt war. Die Aktionen, Happenings und Ausstellungen, die der gefeierte Kurator Harald Szeemann von 1961 bis 1969 in der Kunsthalle veranstaltete, rührten den Topf der Pop- und Konzeptkunst, zogen die verrücktesten und radikalsten Köpfe jener Generation an, empörten die traditionelle Berner Gesellschaft – und kosteten Szeemann schliesslich den Job. Nun konnte Bern wieder ruhig schlafen.

Es war diese freizügige Atmosphäre, die Meret nach dem Tod ihres Mannes dazu bewogen hatte, von Basel nach Bern zu ziehen. Seltene Aufnahmen aus dem Archiv des Schweizer Fernsehens geben einen Eindruck von der Atmosphäre jener Zeit: Eine junge, hippe Schar um Meret Oppenheim trifft sich im Café du Commerce (heute ein portugiesisch-spanisches Restaurant) in der Berner Altstadt, um später in Oppenheims Wohnung weiter zu feiern.

Das Künstlerehepaar Markus und Monika Raetz, das ebenfalls im Video zu sehen ist, gehörte damals zu den engsten Freunden Oppenheims. Markus verstarb letztes Jahr, aber Monika war bei der Eröffnung der Ausstellung dabei. Ich fragte sie, ob sie wisse, ob Meret Oppenheim jemals mit halluzinogenen Drogen experimentiert habe, um zu ermessen, wie tief Oppenheim in die 60er-Jahre-Gegenkultur eingetaucht war. «Ich weiss nicht, ob sie jemals LSD genommen hat, aber es waren viele Substanzen im Umlauf, wissen Sie», antwortete Raetz. «Jede und Jeder hat damals etwas genommen».

Mit Markus Raetz verband Oppenheim eine lange Freundschaft. Die Beiden diskutierten oft über die Verwendung verschiedener Materialien, was damals mehr war als blosses Fachsimpeln. In Bern kam die Konzeptkunst auf, die 1969 in der wegweisenden Szeemann-Ausstellung «Wenn Haltungen Gestalt annehmen» gipfelte. In dieser radikal neuen Art, Kunst zu denken, zu schätzen und zu bewerten, waren Ideen und Prozesse wichtiger als das fertige Kunstwerk selbst.

«Es macht mich wahnsinnig»

In dieser Zeit gab es ausserhalb der Kunstwelt wichtigere Themen, die, wenn schon keine Veränderung, so doch zumindest eine andere Art von Bewusstsein für die gesellschaftlichen Sitten bewirkten. Die Frage der Geschlechter-Gleichstellung war in den 70er-Jahren noch ein sehr kompliziertes Thema. Es schien, als existierten noch keine Begriffe, mit denen man über Geschlecht, Sex und Gleichstellung sprechen konnte.

Dies wird in Outtakes eines Videointerviews deutlich, das 1970 mit Oppenheim aufgenommen wurde: Die Künstlerin ringt mit Worten, als sie vom Journalisten gefragt wird, welche Hürden das Dasein als Künstlerin mit sich bringt. In den ersten Minuten liest sie kühl und leidenschaftslos aus einem Essay vor, der die Situation der Frauen ins Zentrum stellt.

Anschliessend unterhält sie sich mit dem Journalisten. In drei aufeinanderfolgenden Einstellungen unterbricht Oppenheim abrupt ihren Gedankengang und sagt, wie furchtbar schwierig es sei, das Thema in wenigen Sätzen zu behandeln. «Es macht mich wahnsinnig», sagt sie schliesslich im dritten Versuch.

Die Auswahl der Werke in «Mon exposition» verdeutlicht Oppenheims Haltung zur Situation der Frau und zu den Ungerechtigkeiten in der Kunstszene. In einem Brief an Szeemann, in dem sie eine Einladung zur Teilnahme an einer Ausstellung nur für Frauen ablehnt, erklärt sie, dass sie es hasst, in die Schublade «Künstlerinnen» gesteckt zu werden. Sie sei einfach Jemand, der Kunst mache – Punkt.

Meret Oppenheim by Man Ray
Meret Oppenheim, fotografiert von Man Ray, Paris 1933.

Nicht nur Oppenheim, sondern auch andere Meisterinnen der Moderne werden inzwischen für Ihre Leistungen anerkannt. Es ist ein reales, wenn auch sehr junges Ergebnis eines jahrzehntelangen Kampfes für Gleichberechtigung.

Das New Yorker Museum of Modern Art, das ab November 2022 Oppenheims Retrospektive zeigen wird, zeigt derzeit eine Ausstellung der (inzwischen) dadaistischen Meisterin Sophie Taeuber-Arp, die bis letzten Juni in Basel zu sehen war. Und im vergangenen Jahr war in Bern eine Retrospektive der Expressionistin Lee Krasner zu sehen, die bis vor kurzem nur als Ehefrau von Jackson Pollock bekannt war. Und der Titel der nächstjährigen Venedig-Biennale, «The Milk of Dreams» (Die Milch der Träume), ist einem Buch der britisch-mexikanischen Surrealistin und Zeitgenossin Oppenheims, Leonora Carrington, entlehnt. Die grossen Künstlerinnen scheinen endlich in den Mittelpunkt zu rücken. Wenn sie nur noch am Leben wären, um das zu erleben…

Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit mit Renat Künzi (Video-Transkribierung) und Caroline Honegger (Archiv).

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