Wie ein Artefakt aus der Schweiz zurück nach Namibia gefunden hat
In Namibias Küstenstadt Swakopmund finden sich viele Spuren der deutschen Kolonialvergangenheit. Der Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Herero widmet sich das Genozid-Museum am Stadtrand. Dort ist auch ein Fundstück aus der Schweiz ausgestellt.
Das Genozid-Museum von Swakopmund ist etwa 12 Quadratmeter gross. An einem kleinen Bürotisch empfängt Künstler und Herero-Aktivist Laidlaw Peringanda die Besucher:innen.
Vor ihm steht ein Laptop, auf dem Tisch liegen allerlei Bücher und Zeitschriften zum Thema. Die Fotos an den Wänden zeugen von den Taten der deutschen Soldaten: abgeschlagene Köpfe, abgemagerte Männer in Ketten, zu Haufen gestapelte Schädel.
Der erste Genozid des 20. Jahrhunderts
Zwischen 1904 und 1908 ermordeten die Truppen des Deutschen Kaiserreichs in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika bis zu 100’000 Menschen aus den Volksgruppen der Herero und Nama, steckten sie in Konzentrationslager oder trieben sie in die Wüste.
In Swakopmund gibt es ausserhalb des Genozid-Museums kaum Auseinandersetzung mit diesem Geschehen. Die Stadt ist bis heute stark von der Sprache und Kultur der deutschen Kolonialmacht geprägt.
Seit vielen Jahren setzt sich Peringanda gegen das Verdrängen und Verleugnen ein – mit seinem Museum in einem an den Stadtrand gedrängten Township, in dem ein Grossteil der schwarzen Bevölkerung in Armut lebt.
Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Suche und die Rückführung von Artefakten und menschlichen Überresten seines Volks, der Herero: «Sie sind über die ganze Welt verstreut, in Museen und privaten Sammlungen.»
Menschliche Überreste aus Namibia befinden sich bis heute auch in verschiedenen Schweizer Institutionen. Unter anderem in Zürich, wo sie kürzlich von einem Schweizer Studenten namibischer Herkunft bearbeitet wurden.
Die Zürcherin, die einen Herero-Kopfschmuck geerbt hat
In seltenen Fällen kommen auch Privatpersonen direkt auf Peringanda zu, um Dinge zurückzugeben.
So wie Katharina Küng aus dem Kanton Zürich, bei der lange ein Kopfschmuck an der Wand hing, den sie von ihrer Mutter bekommen hatte. «Wir dachten, es sei eine Polsterung einer alten Rüstung», erinnert sich Küng.
Erst bei einer Reise nach Namibia erkannte sie im Museum von Peringanda, dass es sich um einen traditionellen Kopfschmuck der Herero handelt.
Vor der Kolonialisierung trugen ihn verheiratete Frauen zu besonderen Anlässen. Im Zuge der deutschen Kolonisierung zwangen Missionar:innen die Bevölkerung in europäisierte Kleider.
Zurück in der Schweiz entschied Küng, dass der Kopfschmuck zurückmusste. Da sie jedoch keine Unterlagen und auch sonst kaum Informationen hatte, traute sie sich nicht, das Artefakt selbst nach Namibia zu bringen: «Ich hatte Angst davor, etwas Illegales zu tun – was, wenn man mich beim Grenzübertritt verhaftet hätte?»
Über das Internet fand Küng den Kontakt zu Peringanda, und gemeinsam entschieden sie sich für die sicherste Methode für beide Seiten: Der Kopfschmuck wurde per Post verschickt. Heute hängt er in Peringandas Museum in Swakopmund.
Doch wie kam er überhaupt an Küngs Wand? «Meine Mutter arbeitete als Reinigungshilfe, sie putzte bei reichen Leuten», sagt Küng.
Aus einem solchen Haus müsse der Kopfschmuck stammen, von wem genau, habe sie aber nicht herausfinden können. Ihre Mutter ist schon lange tot, die Leute, bei denen sie gearbeitet hat, auch.
Immer häufiger retournieren Privatpersonen aus der Schweiz Kulturgüter freiwillig – hier können Sie lesen, weshalb das so ist:
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Während der Kolonialzeit haben sich auch Schweizer:innen in Namibia niedergelassen. Diese waren laut dem namibischen Historiker Dag Henrichsen von der Universität Basel als Farmer:innen, Händler:innen, Handwerker:innen und Ingenieur:innen tätig.
Rechtsstreite über Rückgaben
Katharina Küngs Rückgabebereitschaft ist eine Ausnahme. Mit Museen wie dem American Museum of Natural History in New York liegt Peringanda vom Genozid-Museum in Swakopmund im Rechtsstreit.
Sie weigern sich, Artefakte und menschliche Überreste aus Namibia herauszugeben. Von einigen Deutsch-Namibiern erhält er Morddrohungen.
Auch die Stadtverwaltung von Swakopmund legt Peringada Steine in den Weg. Sie fürchtet um das Image der Stadt bei den Tourist:innen. Trotzdem macht er weiter – auch ausserhalb des kleinen Museums.
Auf dem Friedhof empfängt Peringanda an diesem Morgen eine Reisegruppe aus Deutschland. Gemeinsam gehen sie an den liebevoll gepflegten Gräbern mit europäischen Namen vorbei in den hinteren Teil des Friedhofs.
Hunderte kleiner Hügel überziehen hier den sandigen Boden. Einige sind mit aufgetürmten Steinen verziert, ein paar wenige mit Holzkreuzen markiert. Gräber, so weit das Auge reicht.
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Die «koloniale Amnesie» in Swakopmund
Die einzige Inschrift weit und breit ziert den grossen schwarzen Gedenkstein, der den europäischen vom afrikanischen Teil des Friedhofs trennt.
Hier erzählt Peringanda, woran die unbekannte Zahl von Nama und Herero, die zwischen 1904 und 1908 während ihrer Kriegsgefangenschaft notdürftig verscharrt wurden, gestorben sind: an Hunger, Sklavenarbeit, sexualisierter Gewalt, Krankheiten und Erschöpfung.
Laut Dag Henrichsen liegen in den Gräbern von Swakopmund neben den Toten aus dem Konzentrationslager auch an Kälte, Typhus und Skorbut gestorbene Vertragsarbeiter wie Ovambo aus Nordnamibia und Damara aus Zentralnamibia sowie Männer aus den britischen Kolonien in West- und Südafrika.
1918/19 kamen mehrere hundert Opfer der Spanischen Grippe hinzu. Allen gemeinsam ist, dass sie afrikanische Zwangsarbeiter für die Siedlerkolonie waren.
Auch Bernd Heyl engagiert sich, als Reiseleiter, für einen kritischen Umgang mit der Vergangenheit. Seit 16 Jahren organisiert er vom Hessischen Kultusministerium als Lehrerfortbildung anerkannte Studienreisen nach Namibia und hat einen postkolonialen Reiseführer zur deutschen KolonialgeschichteExterner Link geschrieben.
Doch davon bekommen die meisten Tourist:innen in Namibia nichts mit. Heyl spricht von einer «kolonialen Amnesie».
Er habe das Buch geschrieben, «damit es neben all den anderen Büchern im Regal steht». Heyl spricht von «reaktionären, den Kolonialismus verherrlichenden Büchern» in den Buchläden von Swakopmund.
Die 76’000-Einwohner:innen-Stadt präsentiert sich als idyllisches Schaufenster der Kolonialzeit – mit Jugendstilfassaden, wilhelminischen Giebeln und deutschen Strassennamen. Das Elend der Vergangenheit bleibt verborgen.
Wie wurde Namibia eine deutsche Kolonie?
1884 hatte Deutschland in Namibia seine erste Kolonie ausgerufen: Deutsch-Südwestafrika. Als wichtigste Hafenstadt der Kolonie war Swakopmund das Einfallstor für deutsche Siedler:innen und Soldaten.
Während die Deutschen Farmen errichteten, wurden die Einheimischen zu Menschen zweiter Klasse degradiert, enteignet und entrechtet.
Als im Januar 1904 der Widerstand zunahm und 100 deutsche Siedler:innen getötet wurden, reagierte das Kaiserreich mit genozidaler Gewalt.
Ein starker Kontrast zum Genozid-Museum zeigt sich auch im ungleich grösseren Ortsmuseum von Swakopmund. Im Shop werden Bücher verkauft, auf die Heyl anspielte: «Heisse Tage – Meine Erlebnisse im Kampf gegen die Hereros» oder «Soldatenleben… Erlebnisse als hessischer Kanonier in Lotheringen und Deutsch Südwestafrika».
Uniformen der Schutztruppe, militärische Abzeichen und Waffen aller Art gibt es im Heimatmuseum zuhauf.
Jahrelange zähe Verhandlungen zwischen der deutschen und namibischen Regierung führten im Juni 2021 zu einer höchst umstrittenen Gemeinsamen ErklärungExterner Link, die noch nicht ratifiziert ist und in Namibia auf erheblichen Widerstand stösst.
Darin erkennt die deutsche Bundesregierung an, dass die damaligen Ereignisse «aus heutiger Sicht als Völkermord zu bezeichnen sind». Sie sieht eine «moralische, historische und politische Verpflichtung», sich für den Völkermord zu entschuldigen.
Eine juristische Verantwortung wird bewusst ausgeschlossenExterner Link. Statt Reparationen will Deutschland über einen Zeitraum von 30 Jahren Wiederaufbauhilfe im Umfang von 1,1 Milliarden Euro leisten.
UNO-Sonderberichterstattende kritisierenExterner Link, dass die Volksgruppen der Herero und Nama nicht direkt an den Verhandlungen beteiligt wurden, und fordern die deutsche Regierung zu Reparationszahlungen aufExterner Link.
Wer sich jedoch über den Völkermord informieren will, muss lange suchen. In einem verlassenen Konferenzsaal im hinteren Teil des Heimatsmuseums gibt es seit einer Ausstellung 2022 immerhin ein paar Tafeln mit Informationen über die, wie es heisst, «dunkle Zeit» zwischen 1904 und 1908.
Die Zeiten ändern sich in Swakopmund
An Swakopmund ist die Zeit nämlich nicht spurlos vorübergegangen. Das Marine-Denkmal im Stadtzentrum, das an die im Kampf gegen die «aufständischen Herero» gefallenen deutschen Soldaten erinnert, ist mit roter Farbe beschmiert.
Die Kaiser-Wilhelm-Strasse heisst heute Sam Nujoma Avenue, benannt nach dem ersten Präsidenten der jungen Republik.
Für den Wandel der Zeit stehen aber auch die jungen Leute, die Peringanda viermal im Jahr bei der Restaurierung der Gräber auf dem Friedhof helfen.
Darunter sind laut ihm auch viele junge Deutsch-Namibier:innen. Gegenüber SWI swissinfo.ch wollten sie sich zu ihrem Engagement nicht äussern.
Bis zum heutigen Tag sind auch in Schweizer Museen Sammlungen aus Namibia zu finden.
Im Bernischen Historischen Museum befindet sich eine Sammlung des bernjurassischen Ehepaars Victor und Marie Solioz aus dem Jahr 1906. Victor Solioz war als Chefingenieur der Otavi-Eisenbahn am Aufbau der kolonialen Infrastruktur des Deutschen Reichs im heutigen Namibia beteiligt.
Wie es dem Ehepaar gelang, mitten im Krieg Hunderte von Objekten an sich zu bringen und nach Europa zu verschiffen, ist bis heute ungeklärt.
Die Sammlung ist Gegenstand des partnerschaftlichen Museumsprojekts Usakos – Making of Common HistoryExterner Link zwischen dem Museum und Nachkommen der Herkunftsgemeinschaft. Bis 2026 sollen die Objekte an ihren Herkunftsort zurückgeführt werden.
Die umfangreichste ethnographische Sammlung zum vorkolonialen Namibia befindet sich im Völkerkundemuseum der Universität Zürich.
Sie basiert auf den Reisen des Zürcher Botanikers Hans Schinz in den Jahren 1884 bis 1886. In einer PressemitteilungExterner Link schreibt das Museum, es stehe vor der Herausforderung, «einen angemessenen und ethisch vertretbaren Umgang» mit den Sammlungsobjekten zu finden.
Editiert von Benjamin von Wyl, Bildredaktion: Thomas Kern
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