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Wie eine Schweizer Schriftdesignerin Kleider für Wörter entwirft

Portrait von Nina Stoessinger
2021 Andrew Lichtenstein

Wo findet eine Designerin ihre Inspiration, um neue Schriftarten zu kreieren? Wie ist es, in Brooklyn zu leben? SWI swissinfo.ch hat mit Nina Stössinger gesprochen, Schweizer Schriftendesignerin und Dozentin in New York.

SWI swissinfo.ch: Sie gestalten neue Schriftarten, haben eine mögliche neue Standardschrift für Windows kreiert. Wie sind Sie zu Schriftendesign gekommen?

Nina Stössinger: Über einige Umwege! Für lange Zeit wusste ich nicht, dass Schriften entwerfen ein Beruf ist. Ich wollte erst Journalistin werden. Texte haben mich immer interessiert. Mein Vater ist Schauspieler im Theater und meine Mutter Autorin, Redaktorin und Journalistin. In meiner Kindheit waren Texte und Bücher also immer wichtig.

Irgendwann habe ich dann mein Interesse an Design erkannt und bin nach Deutschland gezogen, um Multimedia-Design zu studieren. Im ersten Semester hatten wir eine Einführung in die Proportionen von römischen Grossbuchstaben und haben diese auf Papier gezeichnet.

Da hat es bei mir «Klick» gemacht, und ich habe mich verliebt; der Gedanke, dass genau das die Verbindung zwischen Form, Sprache und Ausdruck ist, hat mich nicht mehr losgelassen.

Wie sind Sie zu dem Punkt gekommen, an dem Sie heute sind?

Ich habe einen Nachdiplom-Kurs an der Zürcher Hochschule der Künste besucht, später mein eigenes Designstudio für ein Jahr geschlossen und an der Royal Academy of Art in Den Haag einen Masterabschluss in Schriftdesign gemacht.

Das ist eine der wenigen Möglichkeiten weltweit, einen Abschluss speziell in Schriftdesign zu machen. Mittlerweile arbeite ich seit etwa fünf Jahren in Vollzeit bei Frere Jones TypeExterner Link [eine Agentur für Schriftdesign in New York].

Ausdruck mit Korrekturen
Ein Testdruck der Schrift «Empirica», die von Frere-Jones Type entworfen wird. Rückmeldungen von Nutzerinnen und Nutzern werden gesammelt und als Basis für Änderungen genutzt. Andrew Lichtenstein

Wie war es für Sie, in New York ein neues Leben zu beginnen?

Ich wollte schon immer in New York leben. Es ist meine Lieblingsstadt. Hierher zu ziehen, war allerdings auch schwieriger, als ich mir vorgestellt hatte. New York kannte ich schon von Besuchen, ich hatte hier schon Freunde und zum Zeitpunkt des Umzugs auch bereits einen Job. Also dachte ich, ich weiss was auf mich zukommt.

Aber allein die Lebensrealität, das hektische Umfeld einer so grossen Stadt wie New York, ist viel herausfordernder und intensiver als es mein Leben in der Schweiz war.

In einer Grossstadt wie New York ist das Stadtviertel, in dem man lebt, der Ort mit dem man sich verbunden fühlt. Man kennt die Leute, grüsst sich, tauscht sich kurz aus, wenn man sich über den Weg läuft. Ich gehe hier immer in die gleichen Läden, Cafés und Bars.

Man erschafft sich ein eigenes kleines Ökosystem, und besonders hier in Brooklyn fühlt es sich nicht wirklich überwältigend an. Wenn ich von Brooklyn nach Manhattan gehe, fühlt sich das dann wirklich an wie ein Ausflug nach New York! Ich liebe diese Stadt, besonders jetzt, da die Lebendigkeit zurückkehrt.

Ist New York auch eine Inspiration für Ihre Arbeit?

Auf jeden Fall. Ich bin hier überall von Buchstaben umgeben!

Ich verbringe viel Zeit damit, mir die ganzen Schilder anzusehen, die Graffiti, und all die verschiedenen Formen, welche die Buchstaben haben, denen ich begegne. Ich finde es zum Beispiel sehr interessant, zu sehen, wie viele «Hochglanz»-Schilder und -Zeichen es hier gibt.

Und dann gibt es auch sehr grob oder auch unfertig aussehende Dinge… ein wenig wie eine Erweiterung der Tradition der Handschrift. Und es gibt natürlich auch unerwartete Orte, an denen ich Inspiration finde, zum Beispiel Schriftzeichen an der Müllabfuhr oder an den Lastern, die Öl transportieren.

Ich denke, das hat auch damit zu tun, dass alles neu und anders aussieht, wenn man an einen neuen Ort zieht. Mittlerweile sehe ich bei meinen Besuchen in der Schweiz viele Dinge, die mir vorher nicht aufgefallen sind, weil es so alltäglich für mich war.

Gibt es einen typischen Tag im Leben einer Schriftdesignerin?

Es kommt darauf an, an welchem Punkt im Designprozess man sich befindet. Momentan entwerfe ich neue Schriftzeichen, was bedeutet, dass ich tatsächlich auch zeichne.

Wenn man eine Schriftart entwirft, ist es ein hin und her zwischen dem Zeichnen von einzelnen Buchstaben und dem Testen des Designs, was bedeutet, dass ich sie ausdrucke und in einem grösseren Kontext betrachte. Ein anderer Teil meiner Arbeit findet auf einer eher technischen Ebene statt, wenn die Schriftzeichen dann in all den verschiedenen Formaten für die Nutzung produziert werden.

Zusätzlich gebe ich auch einen Kurs im Schriftdesign an der Yale School of ArtExterner Link. Ich wechsle mich dort mit unserem Design Direktor, Tobias Frere-JonesExterner Link, ab. Er gibt diesen Kurs schon länger, und er war immer überfüllt.

Es ist für mich sehr erfüllend, mein Wissen an andere interessierte Designer und Designerinnen weiterzugeben. Besonders weil es für mich zu Beginn recht schwer war, mehr über den Beruf Schriftdesign zu erfahren.

Essex Market NYC
Der «Essex Market» ist seit langer Zeit ein zentraler Bestandteil der Lower East Side in New York. 2019 ist der Markt umgezogen und hat für alle Schilder und Beschriftungen eine neue Schriftart bekommen. Andrew Lichtenstein

Wenn Sie an einem neuen Design arbeiten, wie heben Sie dieses unter all den bereits existierenden Schriftarten hervor?

Wenn man eine Schrift entwirft, die für Bücher oder längere Texte verwendet wird, ist die Herausforderung, sie so zu gestalten, dass sie nicht zu sehr heraussticht. Das würde die Leserinnen und Leser zu sehr ablenken. Das ist gar nicht so einfach und wahrscheinlich ein Grund, weshalb viele der Serif-Schriftarten für Laien sehr ähnlich aussehen.

Am anderen Ende des Spektrums gibt es Texte für beispielsweise eine Überschrift oder ein Poster, die gross sind und wenig Buchstaben haben, da kann man viel kreativer sein.

Schriftarten sind die «Kleider, die die Wörter tragen».

Die Historikerin Beatrice Warde hat den Ausdruck geprägt, dass Schriftarten die «Kleider sind, die Wörter tragen». Ich habe öfters Studierende in meinem Kurs, die besorgt sind, dass eine Schriftart, an der sie arbeiten, langweilig sein könnte und sie mehr von ihrer Persönlichkeit einbringen sollten. Das passiert aber so oder so – Du bist Du, mit Deinen eigenen, einzigartigen Erfahrungen und Inspirationen, die Du mit Dir trägst und in solche Aufgaben mit einbringst.

Wie finden Sie Namen für neue Schriftarten?

Wir haben ein ganzes Set an Kriterien, die wir bedenken, wenn wir nach neuen Namen suchen.

Eine Sache, die wir zu berücksichtigen versuchen ist, sind Namen, die in der Schriftart auch gut aussehen. Im Idealfall finden wir also ein Wort, das ein paar der wichtigen, zentralen Buchstaben hervorhebt und das Design veranschaulicht, also zum Beispiel ein grosses «G».

Inspiration finde ich häufig, wenn ich darüber nachdenke, an was mich ein bestimmtes Design erinnert. Beispielsweise denke ich: wenn es ein Objekt wäre, aus was würde es bestehen? Manche Designs erinnern an altes Holz oder Metall, und das kann dann ein Ausgangspunkt sein, um einen Namen zu finden.

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Im Fall von Seaford, der Schriftart, die wir für Microsoft entworfen haben, war der Prozess etwas einfacher, da wir die Vorgabe hatten, einen Ortsnamen entlang der nord-westlichen Pazifikküste zu wählen.

Also haben wir eine lange Liste erstellt mit all diesen Ortsnamen und haben diese nach Länge und den Ton der Wörter gefiltert. Wir haben uns für “Seaford” entschieden, weil der Name einerseits geläufig scheint, einen schönen Klang hat, und andererseits einfach zu merken und auszusprechen ist.

Wann bekommen Sie Bescheid, ob Seaford als neue Standard-Schrift für Microsoft ausgewählt wurde?

Wahrscheinlich 2022, wobei das schwer abzuschätzen ist. Im Moment sammeln sie Rückmeldungen von Nutzerinnen und Nutzern, die Schriftarten sind bereits in den Microsoft Office Produkten verfügbar. Wir haben auch schon Rückmeldungen bekommen und ein paar Änderungen vorgenommen.

Haben Sie eine Lieblings-Schriftart?

Unter uns Schriftdesignerinnen und Designern gibt es einen Witz, dass die Antwort auf egal welche Frage immer ist: «Es kommt drauf an.» Und in diesem Fall wäre die richtige Antwort, dass ich keinen Favoriten habe, da es darauf ankommt, wofür ich die Schriftart empfehlen würde.

Es gibt aber durchaus Schriftarten, die für mich herausstechen, als grossartige Beispiele der Handwerkskunst, und eine davon ist schon sehr alt. Sie wurde von Nicolas JensonExterner Link im Jahr 1470 erfunden, also nicht lange, nachdem Johannes Gutenberg die Druckerpresse erfunden hat.

Die Schriftzeichen, die Gutenberg genutzt hat, sehen für unsere Augen heute sehr, sehr alt aus. Und dann kam Jenson und hat die erste römische Schriftart kreiert. Und wenn man sich die Proportionen ansieht, die Balance der Formen, scheint diese Schriftart absolut plausibel, auch heute noch, ein halbes Millennium später. Das ist eine grossartige Leistung.

Nina having a beer
Nach einem langen Arbeitstag geniesst Nina Stössinger ein Feierabendbier in einem nahegelegenen Biergarten in Brooklyn. Andrew Lichtenstein

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