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Wie Propaganda im Ersten Weltkrieg die Schweiz überflutete

"Drei junge Schweizerinnen aus der Romandie zeigen erfreut ihre erobernden Frühlingskleider." Diese Postkarte, Teil einer Osterserie, wurde 1916 in Lausanne hergestellt. Weder die Farben der Kleider, die der französischen Trikolore entsprechen, noch der Gebrauch des Wortes "erobernd" waren zufällig gewählt. www.14-18.ch

Der tiefe kulturelle Graben, der die Deutschschweiz im Ersten Weltkrieg vom französisch- und italienischsprachigen Teil des Landes trennte, wurde von innen und aussen zu Propagandazwecken ausgebeutet – in einem nie zuvor dagewesenen Ausmass.

Der griechische Tragödiendichter Aischylos hatte schon vor 2500 Jahren darauf hingewiesen, dass die Wahrheit das erste Opfer des Krieges ist. Die Versuche, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, erreichten aber  1914 völlig neue Dimensionen: Die kleine Schweiz, eine neutrale Insel unter kriegsführenden Nationen, wurde zu einem medialen Schlachtfeld, auf dem mit massiver Propaganda um die öffentliche Meinung gefochten wurde.

Im Bemühen, das Auseinanderfallen des Landes zu verhindern, gab es zahlreiche Plakate mit Wilhelm Tell, der sich über die Streitereien erhob und so symbolisch ein Gefühl der nationalen Einheit beschwören sollte.

«Auf den ersten Blick hin mag dieses Interesse an der Schweiz ziemlich absurd erscheinen» räumt Alexandre Elsig ein. Elsig ist Co-Kurator der Ausstellung «Im Feuer der Propaganda. Die Schweiz und der Erste Weltkrieg»Externer Link, die gemeinsam vom Museum für Kommunikation in Bern und der Schweizerischen Nationalbibliothek zusammengestellt wurde.

«Aber man muss bedenken, dass dies der erste ‹totale› Krieg war, in dem Massenmedien in zuvor nie dagewesenem Ausmass eine Rolle spielten, und die internationale öffentliche Meinung wirklich sehr wichtig war. Für die Entente und die Mittelmächte ging es nicht nur um die Mobilisierung von Streitkräften, sondern um die Mobilisierung der Gedanken in den Köpfen der Menschen; in diesem Sinne waren die neutralen Länder wirklich wichtig, vor allem die Schweiz, die im moralischen Zentrum des Konflikts stand.»

Die Schweiz war im Ersten Weltkrieg nicht das einzige neutrale Land Europas – zu den weiteren gehörten Spanien, Belgien, Norwegen, Schweden und Dänemark – die einzigartige sprachliche Konstellation und die zentrale Lage des Landes machten die Schweiz aber zu einem perfekten «Versuchslabor», wie der andere Co-Kurator der Ausstellung, Peter Erismann, erklärt.

Beide Kriegsseiten nutzten von Zeitungen über Nachrichten-Depeschen, Plakaten und Flugblättern bis hin zu Kinofilmen, Kinderspielen und Werbung sämtliche verfügbaren Mittel, die ihnen zur Verfügung standen, um die Neutralen von der Legitimität ihrer Aktionen zu überzeugen und auf ihre Seite zu ziehen.

«Hier wurden zum ersten Mal gut getarnte Propaganda und verdeckte Einflussnahme erprobt», sagt Erismann gegenüber swissinfo.ch.

Spannungen

Schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts hatten die Spannungen zwischen den Sprachregionen in der Schweiz geschwelt. Der kulturelle Graben, der die französisch- und italienischsprachige Bevölkerung in der Romandie und im Tessin von der deutschsprachigen Mehrheit trennte, die oft bewundernd auf den mächtigen Nachbarn Deutschland schaute, wurde tiefer.

Die «Kriegsführenden» – vor allem Deutschland und Frankreich – waren sich dieses internen Konflikts bewusst, und sie nutzten diesen, um in der Schweiz einen Propagandakrieg zu führen, und zwar in einem nie zuvor dagewesenen Ausmass.

In der italienischsprachigen Schweiz würde schliesslich eine ähnliche Einstellung herrschen wie im französischsprachigen Teil des Landes. «Italien trat im Mai 1915 auf Seite der Entente in den Krieg ein – was überraschend kam. Als Resultat dieses Entscheids entwickelte sich im Tessin eine vermehrt kritische Haltung gegenüber Deutschland, wie aus Zeitungsartikeln und Satire-Magazinen wie dem Il Ragno [Die Spinne] ersichtlich wird», sagt Erismann.

Gespaltene Schweiz: Diese Karikatur in Form einer Jasskarte im Satiremagazin Nebelspalter von 1917 – das kritisch gegenüber nicht Deutsch sprechenden Politikern und den Alliierten war – zeigt einen biertrinkenden, kartenspielenden Deutschschweizer (untere Hälfte) und seinen durch Frankreich beeinflussten (korrumpierten?) Landsmann aus der Romandie. Nebelspalter Verlag

Elsig verweist darauf, dass die Menschen in der Schweiz ihre Informationen vor allem aus Zeitungen bezogen. «Das war die direkteste Quelle. Es gab auch Illustrierte und Wochenschauen, die in den Kinos vor den Filmen gezeigt wurden, aber meistens waren die Informationen schriftlich.»

Bei Beginn des Kriegs hingen die Schweizer Zeitungen zu einem grossen Teil von ausländischen Nachrichtenagenturen ab, die ihrerseits von Regierungszensoren kontrolliert wurden. Als der Krieg andauerte, gingen die kriegsführenden Länder zu einer subtileren Strategie über: Sie kauften kontrollierende Anteile von Schweizer Zeitungen, um so die Berichterstattung von innen zu «lenken».

Das Resultat war, dass die Ereignisse unterschiedlich wahrgenommen und unterschiedlich darüber berichtet wurde, je nachdem auf welcher Seite des «kulturellen Grabens» in der Schweiz man eine Zeitung kaufte.

Als – zum Beispiel – deutsche Soldaten am 25. August 1914 bei ihrem Versuch, die belgische Stadt Leuven (Löwen) zu zerstören, die dortige berühmte Bibliothek niederbrannten, bezichtigte die Tribune de Genève sie der «Barbarei», während die Zürcher Post über die «angebliche» Zerstörung von Leuven berichtete. Die deutschsprachige Presse im Allgemeinen versuchte, den Angriff unter Hinweis auf einen Aufstand belgischer «Freischärler» zu rechtfertigen.

Die Schaffhauser Zeitung bezeichnete Frankreich und Grossbritannien später als «Verräter Europas (…), Verräter der weissen Rasse (…), Schänder des Christentums». Die Verachtung auf der anderen Seite des Grabens, der die Schweiz durchzog, war genauso stark.

1000 Worte wert

Es gab jedoch nicht nur Zeitungen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts ermöglichten neue Technologien es den Verlagen, Bilder in vorher nie gesehenen Mengen unter die Leute zu bringen. Illustrierte Magazine wurden im Verlauf des Krieg zu wirklichen Massenmedien, besonders gefragt waren Kriegsbilder.

Fotografien wurden wahrgenommen als originalgetreue Abbildungen der Realität des Krieges. Anders als Texte, in denen versucht wurde, die Lesenden mit Argumenten zu beeinflussen, wurden Bilder als objektiv betrachtet. Das war jedoch offensichtlich nicht der Fall (siehe Galerie).

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Als erstes kam Deutschland mit dem Illustrierten Kriegs-Kurier auf den Markt, mit Fotos – viele darunter waren gestellt – sowie Radierungen in vielen Sprachen. Frankreich antwortete mit der Lancierung von Mars in Basel. Und Grossbritannien sprang 1917 mit der Lancierung der Illustrierten Rundschau in Zürich auf den Zug auf.

Kulturelle Propaganda

1916, zur Zeit der grossen Schlachten in Verdun und an der Somme, begannen die kriegsführenden Länder neue Taktiken zu entwickeln, um die neutralen Staaten für sich zu gewinnen: kulturelle Propaganda. Das Ziel war nicht nur, die Öffentlichkeit in der Schweiz von der Richtigkeit der Kriegshandlungen zu überzeugen, sondern sie zu begeistern und für sich zu gewinnen.

So erreichte der Krieg denn auch Theater- und Cabaret-Bühnen sowie Museen: Grosse Kunstschaffende aus der damaligen Zeit wie Richard Strauss, die Comédie Française oder die Wiener Philharmoniker traten alle in der Schweiz auf. Dazu kamen Ausstellungen mit Gemälden von Ludwig Richter oder Max Liebermann, respektive Edgar Degas oder Paul Cézanne.

Auch der Film sollte nicht vergessen werden: Kurz nach Ausbruch des Kriegs wurden in Kinosälen im ganzen Land Wochenschauen gezeigt – dabei war der Inhalt, wie bei anderen Medien, sehr unterschiedlich, je nachdem, wo man sich befand.

Bis 1917 kontrollierten die Mittelmächte die meisten Kinos in der Deutschschweiz, die Entente jene in der Westschweiz. Diese Zunahme der Propaganda liess schliesslich auch die Bundesbehörden handeln:  1917 entstand ein 50 Minuten langer Dokumentarfilm mit dem Titel Die Schweizer Armee. Er zeigt Besetzung und Schutz der Landesgrenzen durch Schweizer Soldaten und wurde zu einem grossen Erfolg in den Kinos. Dieser erste je von Schweizer Behörden produzierte Film ist in der Ausstellung zu sehen.

Postkarten

Und dann gab es auch die Postkarten, eines der beliebtesten Mittel zur Verbreitung von Propaganda. Postkarten erlebten damals ihr goldenes Zeitalter als Kommunikationsmittel: Zwischen 1914 und 1918 fertigte die Schweizer Post zwischen 60 und 80 Millionen Karten pro Jahr ab.

Die Ausstellung

«Im Feuer der Propaganda. Die Schweiz und der Erste Weltkrieg» ist eine gemeinsame Ausstellung des Museums für Kommunikation in Bern und der Schweizerischen Nationalbibliothek.

Die Ausstellung konzentriert sich auf den Propaganda-Krieg und die innere Zerrissenheit der Schweiz während des Kriegs.

Die rund 200 Exponate stammen mit wenigen Ausnahmen aus den Sammlungen der beiden Institutionen. Es handelt sich bei fast allen Objekten um Originale. Zu sehen sind Zeitungen und Magazine, Plakate und Postkarten, Fotografien und Grafiken, Broschüren und Depeschen, Manuskripte und Bücher, Film(ausschnitte) und Tondokumente.

Die Ausstellung besteht aus zwei Teilen: Im Museum für Kommunikation wird anhand von Medien-Beispielen ein Einstieg in die Thematik präsentiert, in der Nationalbibliothek eine Weiterführung und Vertiefung. Die Schau (in Deutsch und Französisch) dauert bis zum 9. November.

«Sie waren wirklich die üblichste Art der Kommunikation – sie waren wie Textnachrichten (SMS) heute, sie wurden oft nur genutzt, um nicht viel mehr zu sagen als ‹Hallo, ich bin hier, wie geht es Dir?› und so ähnlich», erklärt Elsig. «Es ist interessant, nur selten bezieht sich ein Text auf das Bild auf der Postkarte.»

Dennoch, Karten mit ausdruckstarken Bildern – wie der zerstörten Kathedrale von Reims (siehe Galerie) – wurden von den Entente-Mächten in Massen in neutrale Länder verschickt, als unwiderlegbarer Beweis für deutsche Barbarei.

Schon seit Beginn des Konflikts hatten sich die Schweizer Behörden bemüht, Postkarten zu kontrollieren. Angesichts der schieren Menge hatte dieses Anliegen jedoch nur beschränkt Erfolg.

Auch Kinder wurden nicht vor Propaganda verschont; sie wurden auch benutzt, um die Botschaft eines heldenhaften Kriegs zu verbreiten und das Leiden der Kämpfenden zu verharmlosen.

Der Berner Herbert Rikli publizierte in Stuttgart «Hurra! Ein Kriegs-Bilderbuch»Externer Link über ein Kind, das träumt, wie sein Vater im Krieg (für die Deutschen) zu kämpfen.

Auf der anderen Konfliktseite schrieb Charlotte Schaller-Mouillot aus Freiburg «Histoire d’un brave petit soldat»Externer Link (Geschichte eines tapferen kleinen Soldaten), das den Konflikt ebenfalls infantilisierte. Die Gazette de Lausanne empfahl das «abwechselnd tapfere, traurige und amüsante Abenteuer».

Bleibt die Frage, wer denn den Propaganda-Krieg in der Schweiz gewonnen hat? «Sieger war die Seite, die militärisch gewonnen hat – man kann eine solche Niederlage nicht verstecken, das ist nicht möglich», erklärt Elsig.

«Schon während des Krieges war es für die Deutschen schwieriger gewesen. Sie fielen im [neutralen] Belgien ein, und es war sehr schwierig, zu versuchen, diese Tatsache unter den Teppich zu kehren, da die Schweiz auch neutral war und die Invasion gegen internationales Kriegs- und Völkerrecht verstiess.»

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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