Wieder goldener Leopard für China
Der Goldene Leopard der 63. Ausgabe des Filmfestivals von Locarno geht an "Han jia"(Winterferien), wie im Vorjahr ein chinesischer Film. Das rund 2 Wochen dauernde Spektakel hat die Kritiker insgesamt überzeugt. Und was für Noten erhält Olivier Père?
Der goldene Leopard für das erste unter der künstlerischen Leitung von Olivier Père stehenden Festivals wurde von der Jury des internationalen Wettbewerbs verliehen. Die Wahl von «Han jia» des chinesischen Regisseurs Li Hongqi, hat bei Kritikern ein gewisses Erstaunen ausgelöst. Nach Ansicht der Kritiker konnte die Jury aus einer anständigen Palette ihre Auswahl treffen. Doch das Niveau der gesamten Konkurrenz war – abgesehen von ein paar bemerkenswerten Ausnahmen – nicht nur exzellent.
«Han jia» erzählt die Geschichte von vier Teenagern die sich aus einem nichtigen Grund im Haus von Zhou Zhixin treffen, der dort mit Vater, Bruder und einem Neffen lebt. Wie die Mehrheit ihrer Altersgenossen verbringen die Freunde ihre letzten Ferientage mit Herumhängen in der kleinen Stadt, in der nichts zu geschehen scheint. Die Jugendlichen verbringen ihre Zeit mit unwichtigen Diskussionen, die in einigen Punkten ausarten.
Laowu, einer der Protagonisten diskutiert mit seiner Freundin, wie die jugendliche Liebe die Schulleistungen beeinflussen kann. Laobao dagegen fragt sich, welchen Einfluss die Schulbildung auf das wirkliche Leben hat.
Grosse Auswahl, die Pfeile und das Ziel
Wie darf man die erste Festivalausgabe unter dem künstlerischen Leiter Olivier Père werten? Ein paar Stunden, bevor bekannt wurde, an die Leoparden verliehen würden, befragte swissinfo.ch zwei Kritiker, die das Festival seit vielen Jahren verfolgen: Antonio Marotti von der Zeitung Corriere del Ticino und Mariano Morace vom Radio der italienischen Schweiz.
Antonio Mariotti ist der Ansicht, dass «Père einige Pfeile ausgeschickt hat. Diese haben das Ziel nicht immer perfekt getroffen, sie wurden nicht immer so direkt abgeschossen, dass sie das richtige Ziel erreichen konnten. Sicherlich ist es gelungen, den Zuschauern viele Anreize zur Beschäftigung mit schwierigen Themen wie Gewalt, Homosexualität, Sex, Pornografie oder Jugendprobleme anzubieten.»
Andererseits sei das die erste Auflage gewesen. Da könne man nicht ein bis ins letzte Detail perfektes Programm erwarten, sagte Mariotti.
Dieser Ansicht ist auch Mariano Morace: «Die Bilanz ist im Grossen und Ganzen positiv. Am meisten beeindruckt hat mich die Vielfalt der Vorschläge. Klar hat mir nicht alles gefallen», sagt der Filmkritiker. «Aber in keinem Festival gibt es eine Einstimmigkeit betreffend Meinung und Geschmack.»
Drei Vorschläge die nicht gefielen
Laut Morace hat der internationale Wettbewerb mindestens vier bis fünf überdurchschnittliche Werke gezeigt. Dies sei ein ausgezeichnetes Ergebnis, betont er. «Sicher gibt es Filme, die ich nicht ausgewählt hätte, das sind jene die zu den grössten Kontroversen geführt haben: «L.A. Zombie», «Bas-Fonds» und «Homme au bain».
Diese Auswahl wird von Antonio Mariotti geteilt. Dies seien die «schlechtesten Vorschläge des Wettbewerbs, aufgrund ihrer erzählerischen und kinematografischen Armut».
Man könne ja die Absicht verstehen, eine Reihe von Vorschlägen zu bieten, sagt Morace, aber dieses Filmgenre, das sich wegen seines Hangs zur Provokation dem Porno nähere, hätte die Kritiker in Locarno nicht sehr interessiert.
«Aber wir sollten uns nicht auf diese drei Filme konzentrieren, weil es in diesem Genre noch Schlimmeres gibt», sagt Mariano Morace. «Trotzdem: ‹Bas-Fonds› hat mir nicht gefallen, er ist nicht gut gemacht. Aber ohne in Morbidität zu verfallen: Er behandelt ein sehr wichtiges Thema – die Gewalt und Hörigkeit.»
Protagonistinnen und die Stärke von «Beli beli svet»
«Unter den achtzehn Werken im Wettbewerb waren sicher ein Drittel sehr interessant. Es ist eigenartig», bemerkt Mariotti, «dass sich in den vorgestellten Arbeiten oft starke weibliche Charaktere finden, die konfrontiert werden mit Kriminalität, Gefängnis, Marginalisierung und Ausgrenzung.»
Die weibliche Dimension webt sich ein in den Diskurs über die Länder des Ostens, der sich als Raum, als Bereich mit vielen zu erzählenden Geschichten empfiehlt. Geplagt von Konflikten und Kriegen sind die Charaktere im Wettbewerb unglückliche Heldinnen ihrer Zeit. Sie leben in einer Gesellschaft, in der der Kampf ums tägliche Überleben die Hauptsache ist.
Vielleicht sei es ein Zufall, meint Antonio Mariotti, aber die Hauptdarsteller der besten Filme seien Frauen. «Ganz sicher bei drei der interessantesten Filme. Mein Favorit ist der serbische Streifen ‹Beli beli svet›. Ein berührender Film, der auf einer sehr klassischen Struktur basiert, wie die klassische griechische Tragödie. Musik und Gesang werden eingesetzt um die Seele eines Landes, in dem es viel zu tun gibt, zu offenbaren. Ein Film, der über die Realität spricht, in der die Wunden des Bürgerkriegs noch offen sind. Und von einer Gesellschaft, in der ganze Männergenerationen fehlen. Deshalb haben die Frauen die wichtige Rolle, die Gesellschaft zusammen zu halten.»
Das Urteil über diesen Film wird von Mariano Morace vollumfänglich geteilt, nicht nur, weil es auch sein Favorit ist. Aber dem Belgrader Regisseur Oleg Novkovi gelingt es, von einer verlorenen Generation zu sprechen. Unter den von Morace geschätzten Filmen befinden sich auch «Pietro», von Daniele Gaglianone, «Morgen» und Periferic», zwei rumänische Werke.
Beachteter Goldener Leopard
Und Mariotti mochte auch «Han jia»: «Auch wenn das angeschlagene Tempo fast wie eine Strafe wirkt, weil für praktisch eineinhalb Stunden fast nichts geschieht, zeigt er doch die Beziehung zwischen den Jugendlichen mit viel Geschick auf. Nur sehr wenige Dialoge, das ist wahr, aber gewisse Momente und Figuren, wie der kleine Bruder eines Hauptdarstellers, die voll Humor und kinematografischer Kapazität sind.»
Während einige Filme auf interessante Weise den Erzählungsfaden mit den Bildern und dem Inhalt verweben, bot das Festival in Bezug auf die filmische Technik nichts viel Neues. Tatsächlich scheint man sich laut den beiden Kritikern neu wieder auf die klassische Technik zu besinnen.
Die Piazza als Pères Zeugnis
Die Piazza Grande sei sehr schwierig, sagen Mariotti und Morace, weil sie heterogen sei und ein ganz anderes Publikum befriedigen müsse.
«Ich denke, Père hat sich stark auf Genre-Filme konzentriert. Und er brachte Thriller, Komödien Science Fiction und Trickfilme. Auf der Piazza Grande habe ich keine grossen Meisterwerke gesehen», sagt Mariotti. «Ich würde sagen, die grosse Leinwand brachte das schwächste Programm, aber das durchschnittliche Niveau war nicht schlimmer als in den letzten Jahren.»
Mariano Morace bringt viel Verständnis auf für Père: «Trotz einiger wirklicher Anstrengung war das Niveau des Platzes geringer als wir es uns erhofft hatten. Mildernde Umstände sehe ich aber in der enormen Anzahl der Filmfestivals. Alle wollen auf der Piazza jene grossen Filme sehen, die Locarno nicht bekommt. Wir müssen auch erkennen, dass der Film weniger respektable Produkte als in der Vergangenheit produziert.»
Und welche Noten auf einer Skala zwischen 1 und 10 erhält nun Olivier Père? Antonio Mariotti gibt ihm 7 bis 7,5 Punkte. Und Mariano Morace würde eine 7 schreiben, vielleicht eine 7,5 als Ermutigung. Beide sind der Ansicht: Da liegt noch mehr drin.
Françoise Gehring, swissinfo.ch, Locarno
(Übertragung aus dem Italienischen: Etienne Strebel)
Der Dichter und Schriftsteller wurde 1976 in der chinesischen Provinz Shandong geboren. 1999 absolvierte er die China Central Academy of Fine Arts.
Seine wichtigsten Publikation: Lin Jing Chuang Yan (Gedichtsammlung) und die epische Romane Xing Yun (Glücklicher Mann) sowie Shi Bu (Gerüche).
Sein erster Spielfilm
«Hao duo da mi» (Viel Reis, 2005) hat ihm den Preis NETPAC des 58. Filmfestivals von Locarno beschert.
Sein 2. Film, «Huangjjn zhou» von 2008 wurde für den FIPRESCI Critics Award des 52. London Film Festivals nominiert.
«Han jia» (Winterferien) ist sein 3. Film.
Internationaler Wettbewerb Goldener Leopard
90’000 Fr. zu gleichen Teilen an Regisseur und Produzent für den besten Film: Han jia (Winter Vacation) von LI Hongqi, China
Spezialpreis der Jury:
30’000 Fr. zu gleichen Teilen an Regisseur und Produzent für den zweitbesten Film: Morgen von Marian Crisan, Frankreich/Rumänien/Ungarn
Preis für die beste Regie:
30’000 Fr. zu gleichen Teilen an Regisseur und Produzent: Denis Côté für den Film Curling, Kanada
Leopard für die beste Darstellerin:
Jasna Duricic im Film Beli beli svet, Serbien/Deutschland/Schweden
Leopard für den besten Darsteller): Emmanuel Bilodeau im Film Curling, Kanada
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