«Wilhelm Tell hat echten Mythencharakter»
Roger Sablonier, Historiker mit Spezialgebiet Mittelalter, will weder Mythen zerstören noch Traditionen abschaffen. Er stellt aber klar, dass die Gründungsgeschichte der Urschweiz durch die drei Eidgenossen auf dem Rütli eine Erfindung ist.
Der Mittelalter-Experte räumt im Gespräch mit swissinfo mit Mythen beladenen Ansichten zur Schweizer Geschichte um 1300 auf.
swissinfo: Kein Wilhelm Tell und kein Rütlischwur. Wollen Sie auch noch den 1. August abschaffen?
Roger Sablonier: In keiner Weise. Der 1. August wird ja erst seit 1891 gefeiert. Die historische Kulisse mit Beschwörung des Bundesbriefs auf dem Rütli durch die drei Eidgenossen ist erfunden und vor allem im 19. Jahrhundert entstanden.
Das ändert nichts daran, dass der 1. August als Tradition wichtig geworden ist und als Teil einer öffentlichen Geschichtskultur zur politischen Kultur der Schweiz gehört und auch mentalitätsgeschichtlich gesehen eine wichtige Rolle für die nationale Einigung eines Landes mit lauter Minderheiten gespielt hat.
swissinfo: Es gab also keine Urschweiz und auch keine «Urkantone» Uri, Schwyz und Unterwalden?
R.S.: Falsch ist tatsächlich die populäre Vorstellung, Uri, Schwyz und Unterwalden seien bereits um 1300 «Kantone» gewesen. Die Bezeichnung «Urschweiz» geht auf die Meinung zurück, die Region Innerschweiz habe den «Kern» oder den «Wurzelstock» der späteren Eidgenossenschaft und sogar der heutigen Schweiz gebildet.
In den letzten Jahrzehnten hat die Geschichtswissenschaft klarstellen können, dass die Herausbildung dieses Staatswesens ein langwieriger Prozess ist, der im 14. und 15. Jahrhundert unter massgeblichem Einfluss vor allem der Stadt Bern voranschreitet, aber nicht nur von innen heraus erklärbar ist, sondern ganz wesentlich von den politischen Bedingungen im europäischen Umfeld abhängt.
swissinfo: Ihr Buch trägt den Titel «Gründungszeit ohne Eidgenossen». Dann gibt es also auch keine Eidgenossenschaft?
R.S.: Das ist ein krasses Missverständnis. Selbstverständlich hat sich im Raum der heutigen Schweiz mit der Zeit etwas herausgebildet, das als Eidgenossenschaft bezeichnet werden kann.
Allerdings erst im 15. und vor allem im 19. Jahrhundert. Wenn sich die moderne Schweiz als Eidgenossenschaft bezeichnen will, braucht dies nicht in Bezug gesetzt zu werden mit der Geschichte um 1300.
swissinfo: Der Bundesbrief, der sogar mit der Bundesbrief-Society in den USA zahlreiche Anhänger hat, soll nicht aus dem Jahr 1291 stammen. Von wann denn?
R.S.: Die Schweiz ist nicht mit dem Bundesbrief gegründet worden – diese Meinung ist nicht etwa neu. Der Bundesbrief «von 1291» ist kein Staatsgründungsdokument, weil man im Mittelalter nicht Staaten gründen konnte.
Es ist ein Dokument zur Machtsicherung der lokalen politischen Führungsgruppen, zu denen auch der Adel gehörte, ein Schriftstück, das nachträglich erstellt und rückdatiert wurde.
Er ist in einer bestimmten politischen Situation entstanden und enthält nichts von Freiheit, Widerstand gegen habsburgische Fremdherrschaft oder eben gar Staatsgründung.
swissinfo: Wofür steht Wilhelm Tell für Sie? Soll er überhaupt noch erwähnt werden?
R.S.: Klar soll er das. Die Tellen-Geschichte ist aus meiner Sicht der einzige Bestandteil der Befreiungstradition, dem ich echten Mythencharakter zumessen würde, obschon ja unser Bild zur Hauptsache durch Schiller geprägt ist.
Das Tellenbild steht für mich symbolisch für Zivilcourage und Freiheitsbedürfnis, aber das ist keine wissenschaftliche, sondern eine politische Meinung.
swissinfo: Wollen Sie mit Ihrem Buch mit überholten Legenden aufräumen?
R.S.: Nein. In Einzelfällen kann dies vielleicht der Fall sein, so ist beispielsweise in Bezug auf die Schlacht am Morgarten einiges an Alteisen zu entsorgen. Ich will nicht den Altbau niederreissen, sondern einen Neubau gestalten.
Mein Ziel ist es, zu beweisen, dass nach dem Erkennen der wirklichen Rolle dieser Legenden für die Geschichte der Innerschweiz um 1300 nicht einfach ein schwarzes Loch zurückbleibt.
Man kann ja nicht einfach nur sagen, was nicht war, sondern diese Region hat unzweifelhaft eine eigene Geschichte – ohne «eidgenössische» Brille gesehen sogar eine viel spannendere und lehrreichere denn als nationale Heldenstätte.
swissinfo: Die rechtsbürgerliche SVP beruft sich immer wieder auf die alten Eidgenossen, die sich mutig gegen fremde Vögte zur Wehr setzten, um Freiheit und Unabhängigkeit zu verteidigen. Ziehen Sie jetzt der grössten Partei der Schweiz den Boden unter den Füssen weg?
R.S.: Da überschätzen sie Rolle und Bedeutung der Geschichtsforschung ganz gewaltig. Die politische Instrumentalisierung von Geschichte in der erwähnten Form ist ein Teil der aktuellen politischen Kultur des Landes und steht im Dienste von tagespolitischen Interessen.
swissinfo: Ihr Buch zerstört Mythen. Aber braucht ein Land nicht Mythen, um das nationale Gemeinschaftsgefühl zu wahren?
R.S.: Der Interpretation als Mythen-Zerstörung muss ich ganz energisch widersprechen. Ausser in Bezug auf Tell spreche ich nicht gerne von Mythen, sondern lieber von Verfassungslegenden – wie der Rütlischwur, mit dem sich im 19. Jahrhundert der liberale, demokratische Verfassungsstaat historisch legitimierte.
Mythen brauchen nicht zerstört zu werden. Das kann man auch gar nicht, sie funktionieren auf einer anderen Ebene als Resultate wissenschaftlicher Forschung. Die Diskussion um deren angebliche historische Authentizität ist zwecklos, weil Mythen diese Authentizität gar nicht brauchen, um auf Menschen einzuwirken.
Mythen und Legenden sind nicht an sich schlecht. Wenn damit aber menschenverachtende nationalistische Emotionen etwa im Dunstkreis von Xenophobie und Rassismus verbreitet werden, ist das ein anderes Kapitel.
swissinfo-Interview: Gaby Ochsenbein
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Eidgenossenschaft
Der 67-jährige Historiker war bis 2006 Professor an der Universität Zürich.
Heute ist er emeritierter Ordinarius für Geschichte des Mittelalters.
Sablonier ist ein ausgewiesener Kenner der Geschichte der Innerschweiz im Spätmittelalter und Verfasser zahlreicher historischer Publikationen.
Er war auch an der Konzeption des «Forums der Schweizer Geschichte» in Schwyz beteiligt.
Das Buch des Historikers Roger Sablonier löst sich vom traditionellen, aus dem 19. Jahrhundert stammenden Blick, dass die Innerschweiz der Kern der Schweiz sei. Der Autor analysiert, wer mit wem um Einfluss rang.
So verschwörte sich auf dem Rütli nicht das Volk gegen die fremden Vögte. Vielmehr bestätigte der «Bundesbrief» die bestehende herrschaftliche Ordnung.
Der regionale Adel kämpfte damals gegen den Abstieg. Er und nicht die Urner oder Schwyzer war die Konkurrenz der aufstrebenden Habsburger.
Die Habsburger setzten sich allerdings in der Urschweiz nicht durch, im Gegensatz zu den Klöstern: Diese drängten als Landwirtschafts-Unternehmen mit einer modernen Grossviehhaltung die kleinbäuerlichen Selbstversorger an den Rand.
«Gründungszeit ohne Eidgenossen. Politik und Gesellschaft in der Innerschweiz um 1300» von Roger Sablonier. Erschienen im Verlag Hier & Jetzt, 2008.
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