Winterthur: Eine Industriestadt musste sich wandeln
Könnten wir 50 oder 80 Jahre in die Vergangenheit reisen und mit dem Zug in Winterthur einfahren, würden wir Maschinenlärm hören und Industriearbeiter in Überkleidern sehen.
Fahren wir heute nach Winterthur, dann ist alles anders. Stadtpräsident Ernst Wohlwend spricht mit swissinfo über die Stadt von heute.
Nach dem Untergang der dominierenden Maschinenindustrie in den 80er-Jahren hat sich die sechstgrösste Stadt der Schweiz, das Tor zur Ostschweiz, in den letzten Jahren wieder aufgerappelt, sagt Stapi Ernst Wohlwend.
Er ist seit 1992 im Stadtrat und wurde 2002 erster sozialdemokratischer Stadtpräsident.
swissinfo: Was macht es aus, dass es sich lohnt am Morgen aufzustehen, um in Winterthur zu leben und zu arbeiten?
Ernst Wohlwend: Winterthur ist eine Stadt mit einer hohen Lebensqualität. Wir sind eine heisse Mischung zwischen grosser Schweizer Stadt und einem Dorf. Man kennt sich noch – obwohl Winterthur jetzt dann bald 100’000 Einwohner zählt.
Wir haben ein gewaltiges Kulturangebot: Das reicht von Kunstmuseen, Stiftung Oskar Reinhard, bis hin zu weniger etablierten Kulturformen wie die Fotografie, wo wir mit der Fotostiftung Schweiz und dem Fotomuseum eine kulturelle Einrichtung europäischen Zuschnittes haben. Oder in der leichteren Muse sei das Casino-Theater von Victor Giacobbo erwähnt. Nicht zu vergessen, die Winterthurer Kurzfilmtage.
Dann ist Winterthur eine Stadt mitten im Grünen. Nur ein Drittel der Fläche ist überbaut. Ein Drittel ist Wald – der Rest ist Wiesen und Felder. Die Stadt ist verkehrsmässig sehr gut erschlossen, sei es per Bahn oder Autobahn. Zudem liegt Winterthur nahe am Flughafen Zürich-Kloten.
Dann haben wir ein gutes Gesprächsklima. Kaum so polarisierte Diskussionen wie teilweise in andern Städten. Das macht das Leben in dieser Stadt so angenehm.
swissinfo: Was plagt Sie als Stadtpräsident zur Zeit am meisten? Was muss dringend gelöst werden?
E.W.: Winterthur war zu seiner Blütezeit eine wichtige Schweizer Industriestadt. Im Rahmen der De-Industralisierung sind tausende von Arbeitsplätzen verschwunden – ich betone tausende. Das hat uns bevölkerungsmässig einen Niedergang beschert.
Parallel dazu kam der finanzielle Niedergang. Der war dermassen drastisch, dass Winterthur sich noch heute – nachdem der Aufschwung deutlich zu spüren ist – mit einer sehr tiefen Steuerkraft pro Person auseinandersetzen muss.
Wir haben den Turnaround noch nicht vollständig geschafft. Das ist dann der Fall, wenn wir bei einer Steuerkraft angelangt sind, die über dem Durchschnitt des Kantons liegt.
swissinfo: Wenn Sie wünschen könnten, wohin soll sich Winterthur entwickeln und – auf der andern Seite – welche Entwicklung muss unbedingt vermieden werden?
E.W: Wünschen macht nicht viel Sinn – wir müssen sehr realistisch auf dem aufbauen, was wir haben. Wir sind eine Kultur- und Bildungsstadt. Das müssen wir weiter pflegen.
Durch den Zusammenschluss der höheren Wirtschafts- und Verwaltungsschule mit dem Technikum Winterthur – dem ältesten Technikum der Schweiz – haben wir eine Mehrfachspartenhochschule. 2010 werden wir rund 4500 Studierende haben. Heute sind es 3500.
Diese Jugendlichkeit ist spürbar in den Strassen, Plätzen und Restaurants. Die jungen Leute bilden auch ein Potential an gut ausgebildeten Arbeitskräften, was die Ansiedlung von Betrieben erleichtert, die solche Leute brauchen.
Wir versuchen deshalb eine «clusterorientierte» Wirtschaftsförderung umzusetzen, das heisst die Konzentration von Unternehmen und unterstützenden Einrichtungen wie Universitäten und Berufsausbildungseinrichtungen.
swissinfo: Müssen Städte oder städtische Agglomerationen ihre Anliegen zum Thema der eidgenössischen Wahlen 2007 machen? Wenn ja, wie und warum?
E.W: Es wäre schön, wenn diese Problematik zum Wahlkampfthema würde. Nur ich befürchte, es wird nicht dazu kommen. Tatsache ist, dass zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung in Städten leben.
Alle aktuellen und drängenden gesellschaftspolitischen Themen entbrennen sich in unseren Städten, belasten unsere Finanzen und Infrastrukturen und trotzdem läuft die Bundespolitik so, dass man sagt, wir haben 2600 Gemeinden und die müssen alle die selbe Ausstattung haben, denn alle haben die selben Probleme.
swissinfo: Die Schweiz ist demographisch gesehen ein Land der Städte und städtischen Agglomerationen. Politische Entscheide fallen jedoch immer noch im ländlichen Raum mit ländlichem Denken.
E.W: Nur ein Teil dieses Landes denkt ländlich und dieser Teil, der ländlich denkt, ist in der Regel in Exekutiven besser vertreten. Ich mache die Erfahrung, dass sowohl auf eidgenössischer wie auf kantonaler Ebene genau dieses nicht mehr zutreffende Bild abgebildet wird. Unsere Regierungen setzen sich in der Mehrheit aus Vertretern der Landschaft zusammen. Die Vertreter der urbanen Zentren sind in der Regel in der Minderheit. Das muss sich ändern.
swissinfo-Interview, Urs Maurer
Winterthur liegt im Kanton Zürich und hatte am 31.12. 2005 rund 93’000 Einwohner.
Das bedeutet sechstgrösste Stadt der Schweiz und die zweitgrösste im Kanton Zürich.
Die Wohnbevölkerung in Winterthur wächst im Mittel um 4 % pro Jahr.
Winterthur hat 18 Museen. Das bekannteste dürfte das Museum Oskar Reinhard «am Stadtgarten» sein mit rund 600 Werken deutscher, schweizerischer und österreichischer Künstler aus dem 18. bis 20. Jahrhundert. Dazu kommt die Privatsammlung von Reinhard.
Dann etliche Orchester und Theater, so das Theater Winterthur am Stadtgarten und das Casinotheater.
Aus Winterthur kommen zahlreiche bekannte Personen, wie der Philosoph Johann Georg Sulzer (1729 – 1779) der Maler Johann Ludwig Aberli (1723 – 1786) oder der Maschinenkonstrukteur Charles E. L. Brown (Brown Boweri, heute ABB). Dann etwa Hans Gamper (1877-1930), der Gründer des FC Barcelona.
Aus neuerer Zeit seien Bernhard Thurnherr, Moderator beim Schweizer Fernsehen oder der Kabarettist Viktor Giacobbo erwähnt.
In der Stadt selber wohnten oder wohnen unter anderen Gottfried Semper (1803 – 1873), der deutsche Architekt der Semperoper in Dresden. Semper baute auch das Stadthaus, heute Sitz der Stadtregierung.
Albert Einstein lebte in Winterthur und die Musikerin Anne Sophie Mutter kam als 11-jährige in die Stadt für das Studium am Konservatorium.
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