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“Wir sind zu wenig stolz auf unsere Kultur”

David Streiff bedauert es, in Locarno fast keine Zeit für das Anschauen von Filmen zu haben. Keystone

Warum es der Schweizer Spielfilm so schwer hat, und wie der Föderalismus den kulturellen Reichtum fördert, das nationale Kulturbewusstsein aber hemmt.

Ein Gespräch mit David Streiff, Direktor des Bundesamts für Kultur und während zehn Jahren Leiter des Filmfestivals von Locarno.

swissinfo: Herr Streiff, wie viele Tage verbringen Sie dieses Jahr am Filmfestival von Locarno?

David Streiff: Ich werde die ersten vier Tage dort sein. Zu meinem grossen Bedauern werde ich jedoch keine oder nur sehr wenige Filme sehen, weil ich an offiziellen Anlässen und Sitzungen teilnehme. Danach muss ich zurück an die Arbeit, der Rest wäre Luxus, und den kann ich mir im Moment nicht leisten.

Ihre Zeit als Festivaldirektor liegt schon mehr als 10 Jahre zurück. Was unterscheidet das Locarno von Irene Bignardi vom Locarno von David Streiff?

DS: Es ist primär die Grösse, die sich unterscheidet. Ich habe das Festival in einem schwierigen Moment übernommen, als es Stimmen gab, die das Festival beerdigen wollten. Mir gelang schliesslich der Turnaround. Der Erfolg führte dazu, dass das Festival von den Besuchern überrollt wurde, allerdings in keinem Verhältnis zu heute.

Die Zahl der Besucher hat den Charakter des Festivals verändert. Zudem hat das Filmangebot massiv zugenommen. Es ist heute nicht mehr so, dass alle die gleichen Filme sehen. Es wie ein Supermarkt: Jeder nimmt sich aus dem Festival das heraus, was ihn interessiert.

Bedauern sie diese Entwicklung?

DS: Ja und Nein. Es ist natürlich sehr positiv, dass die internationale Bedeutung von Locarno enorm zugenommen hat. Der Preis dafür ist allerdings, dass es diese Art von Freiheit und Intimität, die das Festival früher hatte, heute nicht mehr gibt.

Welche Bedeutung hat Locarno für den Schweizer Film?

DS: Als Plattform war Locarno immer ein wichtiges Festival. Es ist die grösste und beste Chance, um ein internationales Fachpublikum mit dem Schweizer Film zu konfrontieren. Der Nachteil der heutigen Struktur ist jedoch, dass es aufgrund des grossen Angebots jedem Einzelnen überlassen bleibt, ob sie oder er in diesen zehn Tagen überhaupt einen Schweizer Film sehen will.

Seit Jahren heisst es, der Schweizer Spielfilm sei in einer Krise. Was ist das Problem?

DS: Das Problem ist ein doppeltes: Der Markt und das Geld. Generell haben nicht-amerikanische Filme Probleme. In der Schweiz erschwert jedoch die Vielsprachigkeit zusätzlich die Auswertung eines Films, weil das jeweilige Hinterland sehr klein ist. Zudem sind Filme, die in der Schweiz am besten funktionieren wie zum Beispiel “Ernstfall in Havanna”, meistens nicht exportfähig.

Gerade beim Kino ist der Röstigraben sehr existent. Die welschen Filme haben in der Deutschschweiz eine viel bessere Rezeption als umgekehrt. Deutschschweizer Filme schaffen es kaum in die französischsprachige Schweiz. Und für die italienische Schweiz ist die Untertitelung zu aufwändig. Der Markt kann in der Schweiz also nicht gleich spielen wie für die grossen Filmnationen.

Zweitens haben wir ein Finanzierungs-Problem. Spielfilme sind in der Regel eine teure Sache. Die meisten Spielfilme bewegen sich in einer Grössenordnung, wo wir mit dem Filmkredit, der uns zur Verfügung steht, nach wie vor nicht wirklich mitziehen können. Schweizer Produzenten müssen sich auf internationale Koproduktionen einlassen, um hin und wieder einen Schweizer Spielfilm machen zu können. Aus dieser Situation kommen wir nur durch eine wesentliche Aufstockung der Filmbudgets, namentlich des Bundes.

Warum gibt die Schweiz nicht mehr Geld für den Film aus?

DS: Das ist eine politische Entscheidung. Wir konnten nie genügend deutlich machen, dass es hier nicht bloss um Kulturgelder geht, sondern auch um Wirtschaftsgelder. Hätten wir eine stärkere Produktions-Infrastruktur, wäre dies ein positiver ökonomischer Faktor für den Standort Schweiz.

Was sind die Gründe?

DS: In der Tradition ist der Schweizer Film ein Kunsthandwerk. Produzenten, die mit einem bestimmten Geldvolumen arbeiten, zwischendurch wieder Geld machen und dann wieder in ein Risiko investieren, sind in der Schweiz noch selten. Ein Beispiel ist Ruth Waldburger, die dieses Jahr in Locarno mit dem Preis von Raimondo Rezzonico ausgezeichnet wird.

Welchen Stellenwert hat der Film innerhalb der Kulturpolitik des Bundes?

DS: Er hat einen sehr wichtigen Stellenwert. Die Verfassung schreibt dem Bund beim Film eine primäre Rolle zu. Wir haben laut Filmgesetz nicht nur die Verantwortung für die Filmproduktion, sondern auch für die Vermittlung der Filme, die Filmkultur sowie für die kulturelle Vielfalt des internationalen Angebots in den Kinos. Wir haben beim Film eine ganz dominante Rolle. Dies drückt sich auch im Budget aus, aber nicht genügend.

Ist die Kulturpolitik in einem mehrsprachigen und föderalistischen Land wie die Schweiz eine besondere Herausforderung?

DS: Ja, sicher. Und zwar weniger wegen der Vielsprachigkeit als wegen der sehr starken föderalistischen Kulturauffassung. Laut Verfassung ist die Kultur primär Sache der Kantone. Diese Hoheit führt zu einem aussergewöhnlichen Reichtum an Angeboten. Jede Stadt, die es sich irgendwie leisten kann, bietet Theater oder sogar Dreispartentheater an. Wir haben so viele grossartige Museen, wovon einige davon durchaus auch den Stolz einer ganzen Nation ausmachen könnten. Doch der Genfer ist nicht per se stolz darauf, dass es in Basel ein so phantastisches Museum gibt. Und natürlich vice versa!

Wir sind viel zu wenig stolz auf das, was wir zu bieten haben. Zentralistische Länder mit einem einflussreichen und finanziell starken Kulturministerium können nach aussen ihre “Grande Nation” darstellen. Ob dann in der Provinz noch etwas Vernünftiges läuft, ist freilich eine andere Frage. Wir haben dieses unglaubliche Angebot, aber dadurch, dass jeder für sich wirbt, ist das Bewusstsein, dass wir eine Kulturnation sind, etwas gebrochen.

Wir vom Bund müssen einerseits wahnsinnig dankbar sein, dass in den Regionen so viel Eigeninitiative, Geld und Kunstsinn vorhanden sind. Andererseits müssen wir damit leben, dass die Rolle des Bundes im Verhältnis relativ bescheiden ist.

Was konkret kann der Bund tun?

DS: Er kann ergänzend zu Kantonen, Städten und Privaten wirken, er kann mit geeigneten Gesetzen dazu beitragen, dass optimale Rahmenbedingungen geschaffen werden, und er kann die Kooperation mit den andern Kulturförderstellen vorantreiben. Im Bereich des Internationalen ist es zumeist der Bund (Pro Helvetia und wir), der kulturelle Interessen vertritt – es wäre absurd, jeder Kanton würde das selber tun. Das neue Kulturförderungsgesetz, an welchem wir arbeiten, wird hier eine grössere Transparenz schaffen, als es bisher der Fall war.

Die Schweizer Kulturpolitik hat seit Anfang Jahr einen neuen Chef. Ist Bundespräsident Pascal Couchepin ein Filmliebhaber?

DS: Er kennt sich recht gut aus. Ich war erstaunt, dass er offenbar doch manchmal, wenn ihm die Zeit reicht, ins Kino geht. Ich würde aber nicht sagen, dass er ein Filmliebhaber ist, wie es seine Vorgängerin Ruth Dreifuss war. Bundesrat Couchepin ist eher ein passionierter Leser und Museumsbesucher als ein Kinogänger.

Ihre schönste Erinnerung an Locarno?

DS: Das erste Mal als mir klar wurde, dass meine Programmation funktioniert. Es war bei der Schweizer Erstaufführung des wunderbaren Films der Brüder Taviani “La notte di San Lorenzo”. Ich zeigte ihn in der Nacht vom 10. August 1982, eben der Nacht von San Lorenzo, auf der Piazza Grande. Zum ersten Mal waren auf der Piazza mehr als 2000 Leute. Die 4000 Zuschauer waren damals absolut sensationell. Heute wird dies ja schon fast als Flop bezeichnet, wenn nur so wenige kommen. Für mich war dies ein Quantensprung.

swissinfo-Interview: Hansjörg Bolliger

Der Kunsthistoriker Daniel Streiff (58) ist seit 1994 Direktor des Bundesamts für Kultur, von 1982-1991 leitete er das Filmfestival von Locarno.

Das Bundesamt für Kultur gibt es erst seit 1989. Das Gesamtbudget für 2003 beläuft sich auf 220 Mio.

Der ordentliche Filmkredit für 2003 beträgt 21,9 Mio Fr., 10% davon gehen an die Festivals.

Locarno (Budget 9,2 Mio.) erhält vom Bund 1,2 Mio., Nyon und Solothurn je 300’000 Fr.

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