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Wo Gott manchmal die Regie übernimmt

Die letzten Tage des Ancien Régime - erlebbar auf Schloss Holligen. Freilichttheater Holligen

Obwohl die Schweiz nicht unbedingt für lange und beständige Sommermonate bekannt ist, werden unzählige Freilichttheater aufgeführt. Gespielt wird auch bei wechselhaftem Wetter mit Blitz und Donner, wie auf dem Schloss Holligen in Bern.

Für fast jeden Geschmack findet sich im Sommer ein Theater, das unter freiem Himmel aufgeführt wird: sei es ein berühmtes wie die Tell-Freilichtspiele in Interlaken, ein pompöses Musical wie «Jesus Christ – Superstar» auf der Seebühne in Thun oder ein kleines wie das Sommertheater in der Altstadt von Schaffhausen, mit einem Krimi von Friedrich Glauser.

Wer an einem Originalschauplatz in die Geschichte eintauchen will, kann dies derzeit in Bern im sagenumwobenen Schloss Holligen tun. Im Stück «Verrat – Das geheimnisvolle Läuten auf Schloss Holligen» spielen Menschen von heute Hausierer, Schlossherren und -damen, Knechte und Mägde oder die Frau des Schultheissen.

Angesiedelt ist das Stück im geschichtsträchtigen Jahr 1789, in den letzten Tagen vor dem Fall des Ancien Régime, als nur wenige Patrizierfamilien die Geschicke der Stadt Bern bestimmten. Es ist die Zeit der Umwälzungen, die durch Napoleons einmarschierende Truppen eingeleitet wurden.

Die Schauspielerinnen und Schauspieler tragen Kleider aus jener Zeit. Das Publikum, vor dem Schlossturm auf einer gedeckten Tribüne platziert, wähnt sich im 18. Jahrhundert. Nur die Geräusche von Autos und Helikoptern passen nicht ganz zur Darbietung.

Vogelgezwitscher und Strassenlärm

Der Lärm von den umliegenden Strassen sei auch eines der grössten Probleme bei den Aufführungen, sagt Regisseur Kurt Frauchiger. Das Schloss liegt mitten in einem Wohnquartier, wo auch Busse verkehren. Auf dem nahe gelegenen Spital landen immer wieder Helikopter.

Ansonsten kann der Regisseur nur schwärmen vom Theaterspielen unter freiem Himmel: «Die Ambience mit Bäumen und Vorgelgezwitscher ist wunderschön. Die Natur bietet die Kulissen, eigene haben wir keine hingestellt.»

Ein weiterer Vorteil sei die Weite, sagt Frauchiger. «Das macht auch den Reiz von Freilichttheatern aus: die Möglichkeit, den Raum auszufüllen und alles ins Stück mit einzubeziehen, was die Umgebung bietet.»

Die Weite der «natürlichen Bühne» hat aber auch Nachteile: «Die Schauspieler müssen sehr laut sprechen, denn wir benützen keine Mikrofone. Zudem hat das Schloss eine grossartige Ausstrahlung. Manchmal müssen die Schauspieler dagegen anspielen, was sie aber sehr gut im Griff haben.»

Pensionierte und Schülerinnen

Über 25 Laienschaupielerinnen und -schauspieler sowie etliche Statisten, inklusive einem Pferd mit Kutsche, spielen im Stück mit. In mehr als 70 Proben haben sie sich auf die über einen Monat dauernde Spielzeit vorbereitet.

«Am Anfang war das Niveau der Schauspieler sehr unterschiedlich. Manche waren fast schon professionelle Laien. Es gab aber auch welche, die noch nie Theater gespielt haben. Meine Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass das Niveau am Schluss der Proben einigermassen ausgeglichen ist», sagt der Regisseur.

Einer der Schauspieler ist Franz Bigler. Er ist pensioniert und war früher Berufsschullehrer. «Ich spiele den Hausierer Jojo und gebe ab zu etwas Philosophisches von mir. Ich fahre mit meiner Kumpanin Minette durchs Land. Wir verkaufen Ware, oder wie man damals sagte, Marchandise.»

Sich ins 18. Jahrhundert zu versetzen, damit hatte er keine Mühe: «Ich hatte manchmal sogar das Gefühl, das 21. Jahrhundert ist nicht mein Jahrhundert.»

Christine Heiniger, Körpertherapeutin und Übersetzerin von Theaterstücken, spielt eine Magd. Für sie ist es ein besonderes Abenteuer, draussen zu spielen: «Der Raum hier ist ein ganz anderer, den man füllen muss. Auf einer Theaterbühne ist der Raum viel kleiner. Hier haben wir eine ganze Umgebung.»

Die elfjährige Schülerin Andrea Friederich spielt die Müllerstochter Rösli. «Im Freien muss man laut und deutlich sprechen. Das war am Anfang ein bisschen schwierig für mich. Es ist schön, draussen auf der Bühne zu stehen. Und das Wetter spielt meistens mit», sagt sie.

Blitz und Donner im richtigen Moment

Manchmal spielt das Wetter aber nicht mit. Zwei Vorstellungen mussten wegen zu starkem Regen abgesagt werden.

«Bei unsicherem Wetter ist die Stimmung angespannt: Wird gespielt oder nicht? Wenn wir dann aber angefangen haben zu spielen und es regnet ein bisschen, spielen wir weiter», sagt Franz Bigler.

Auch bei Blitz und Donner wurde schon gespielt. Insbesondere eine Aufführung ist Christine Heiniger in Erinnerung geblieben: «Ausgerechnet am 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag, zog ein riesiges Gewitter von Frankreich her auf.»

«Wir hatten Glück, denn es regnete nur in der Pause und dann erst wieder nach der Vorstellung. Bei bestimmten Aussagen kamen Blitz und Donner wie ein Kommentar aus dem Himmel», sagt sie.

Auch Regisseur Kurt Frauchiger erinnert sich an diese Vorstellung: «Da hat der liebe Gott Regie geführt. Blitz und Donner kamen genau im richtigen Moment.»

Sandra Grizelj, Schloss Holligen in Bern, swissinfo.ch

Als Vorlage für «Verrat – das geheimnisvolle Läuten auf Schloss Holligen» diente dem Autor Markus Michel die Erzählung «Die Waise von Holligen» (1859) des Schweizer Volksdichters Jakob Frey.

Im Stück kommen erfundene, aber auch historische Figuren wie der Kunstmaler Franz Niklaus König zu Wort.

Erzählt wird die Geschichte von Adele, der Tochter des Schlossherrn von Holligen, die eine Liebebeziehung zum Kunstmaler Franz Niklaus führt. Ihr Vater möchte diese «Mesalliance» unterbinden.

Anhand dieser Irrungen und Wirrungen wird der Untergang des alten Bern und des Ancien Régime im Jahr 1789 gezeigt. Damals hat das Patriziat seine Vormachtstellung endgültig verloren.

Zwischen den Szenen wird Musik von der Komponistin Barbara Jost ab Band eingespielt.

Die Idee zum Theater-Projekt «Verrat» entstand im Jahr 2004. Dank der Unterstützung des Quartiervereins Holligen-Fischermätteli-Leist, der Turmstiftung Schloss Holligen, den Bewohnern des Schlosses und unzähligen Sponsoren konnte das Projekt durchgeführt werden.

Vor der Vorstellung können sich die Zuschauer mit einem Verräter-Menu verköstigen.

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