Wo Sage und Geschichte zusammenkommen
Vaclav Havel war vor uns da
Das ist also das Rütli, eine Wiese, ein grünes Viereck. Die rote Fahne mit dem weissen Kreuz in der Mitte. Das ist alles.
Auf dem Weg trafen wir ein paar (sehr gesellige) Kühe und Schafe. Etwas abseits steht ein rustikales, heimeliges Restaurant. Auf der Terrasse ein Gartenzwerg. Im Hintergrund der See und die Berge.
Kurz, ein Stück Schweiz in einer Glaskugel. Im Winter schüttelt man sie und es schneit.
Gut. Geben wir es zu: Keiner von uns war vor dieser Reportage schon mal hier. Das Rütli, 1291 Geburtsort der Schweizerischen Eidgenossenschaft, unseres Vaterlands – wir hatten es noch nie besucht.
Eine Schande? Vielleicht. Aber vielen unserer Miteidgenossen und -genossinnen geht es nicht anders. Nicht einmal Bundesrat Moritz Leuenberger: Ohne Vaclav Havel wäre er wohl nie dort gewesen.
2001 hatte der frühere tschechische Präsident anlässlich eines offiziellen Besuchs in der Schweiz darauf bestanden, mit seinem Schweizer Kollegen die berühmte Wiese zu besuchen.
Der Zürcher Sozialdemokrat zierte sich erst ein wenig, weil das Rütli oft als Symbol einer Schweiz gilt, das sich auf ihre alten Mythen zurückzieht. Schliesslich liess er sich umstimmen.
Vom Patriotismus zum Nationalismus
Hier kommen Sage und Geschichte zusammen, hier ist der Geburtsort der unabhängigen Schweiz, nachdem Wilhelm Tell das Land befreit hatte.
Ein Symbol der Vaterlandsliebe, das vor allem die Nationalisten für sich beanspruchen. Mehrmals störten Skinheads die 1.-August- Feierlichkeiten auf dem Rütli.
Abgesehen von der Liebe zu Vaterland und Mythen, die einige als verstaubt ansehen, verkörpert das Rütli auch moderne Werte wie Freiheit und Solidarität.
Diese Ansicht vertritt zumindest die frühere CVP-Nationalrätin Judith Stamm, die wir auf dem Weg zum Rütli zufällig auf dem Schiff trafen.
Allgemein gültiges Symbol der Freiheit
Heute ist die Luzernerin Präsidentin der Rütli-Kommission. Sie möchte daraus ein Symbol der Freiheit machen, das über die Grenzen der Schweiz hinaus Gültigkeit hat.
«Für mich ist die Freiheit ein wesentlicher Wert. Wenn sie anderswo in der Welt mit Füssen getreten wird, geht uns das hier in der Schweiz auch etwas an», führt Stamm aus. «Ich möchte diesen sehr lokalen Ort heute zu etwas Übernationalem machen.»
Jedes Jahr besuchen über 100’000 Personen das Rütli. Laut Stamm sind es Touristen aus aller Herren Länder. «Manchmal kommen auch Schweizer. Und es heisst, dass Leute aus der Region mindestens einmal pro Jahr hierher pilgern.»
Mehrere Persönlichkeiten haben die sagenhafte Wiese besucht, so 2001, wie erwähnt, Vaclav Havel. Auch die englische Königin Elisabeth II., aber vor ihr schon Königin Victoria, die ein Aquarell des Rütli gemalt hatte. Und Ludwig von Bayern träumte davon, hier zu leben.
Und schliesslich trug der Besuch Goethes auf dem Rütli dazu bei, dass sein Freund und Dichter Schiller seinen «Wilhelm Tell» schrieb.
swissinfo, Daniele Papacella und Alexandra Richard, Rütli
(Übertragung aus dem Französischen: Charlotte Egger)
1859 hat die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft das Rütli gekauft. Sie wollte die Parzelle im Originalzustand erhalten. Ein Jahr später schenkt sie sie der Eidgenossenschaft. Seither ist der Bund für die Instandhaltung verantwortlich. Den Auftrag dazu hat er der Rütli-Kommission erteilt.
Im 13. Jahrhundert sollen Vertreter von Uri, Schwyz und Unterwalden auf der Rütliwiese geheime Treffen abgehalten haben.
Laut der Sage haben Walter Fürst, Werner Stauffacher und Arnold von Melchtal hier im Jahr 1291 den Solidaritätspakt unterzeichnet, der als Gründungsakt der Schweizerischen Eidgenossenschaft gilt.
Nur die mündliche Überlieferung bringt Wilhelm Tell mit den politischen Aktivitäten in Zusammenhang, die zur Unabhängigkeit des Landes führten.
In keiner schriftlichen Quelle ist etwas dazu zu finden. Es heisst aber, dass die Eidgenossen von der Heldentat des Bürgler Schützen inspiriert worden seien.
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