Wohnungsnot in Zürich treibt die soziale Umschichtung voran
Die Architektin Fareyah Kaukab vergleicht die Gentrifizierung in Zürich mit ähnlichen Entwicklungen in anderen Industrieländern, wo Immobilien immer mehr zur Ware werden – mit Folgen für die Menschen, die (noch) darin wohnen. Erleben wir die Entvölkerung der Städte?
Der kleine Laden um die Ecke muss einem trendigen Café weichen, die durchmischte Quartierbevölkerung wird von Yuppies verdrängt…
In Zürich, wo die Mittelschicht das untere Ende der Bevölkerungspyramide darstellt, wird es immer schwieriger, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Selbst eine der reichsten Städte der Welt kämpft wie viele andere Metropolen weltweit mit einer Wohnraumkrise.
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Die jüngste Immobilienstudie der Raiffeisen BankExterner Link, die im September veröffentlicht wurde, berechnet für das zweite Quartal 2024 einen Anstieg der Mieten bei Wohnungsangeboten von 6,4%, was der stärksten Zunahme seit 30 Jahren entspricht. Im gentrifizierten Stadtteil Zürich-West brummt der Immobilienmarkt derweil munter weiter. Immer mehr Luxuswohnungen entstehen.
Immobilienspiegel dokumentieren regelmässig hohe Mieten namentlich bei den sogenannten Ersatzneubauten – also neuen Gebäuden, die anstelle von alten Wohnbauten errichtet wurden.
Eine 3½-Zimmer-WohnungExterner Link in Zürich-West kann gemäss Tages-AnzeigerExterner Link bis zu 8100 Franken im Monat kosten. Dagegen fällt der gesamtstädtische Durchschnitt gemäss Zahlen der Stadt Zürich 2022Externer Link mit 1787 Franken für eine 4-Zimmer-Wohnung und 1470 Franken für eine 3-Zimmer-Wohnung deutlich tiefer aus.
Die Corona-Pandemie hatte auch Konsequenzen für die Immobilienmärkte – Häuser in der Vorstadt wurden attraktiver, Büroflächen waren weniger gefragt.
Dessen ungeachtet wuchsen die Technologiebranche und die Finanzbranche in Zürich über diesen Zeitraum beträchtlich: Viele gutverdienende Angestellte von Startups zogen in die Limmatstadt, und Google verlegte gar seinen europäischen Hauptsitz nach Zürich.
Der Internet-Gigant, der seit 2004 ein stetiges Wachstum verzeichnet, beschäftigt heute in Zürich mit seinen ca. 400’000 Einwohnern mehr als 5000 Angestellte.
Gemäss Oak’s Lane Stone CapitalExterner Link, einer Private-Equity- und Investment-Firma, bezahlen diese Unternehmen Löhne deutlich über dem lokalen Mindestlohn von 4000 Franken.
Bloomberg berichtet, dass Google seinen Software-Entwickler:innen bis zu 200’000 Franken pro Jahr bezahlt, selbst wenn sie noch Anfänger:innen sind.
So hat die Zuwanderung von hochbezahlten Angestellten die Immobilienpreise in Zürich nach oben getrieben, ähnlich wie in San Francisco, wo die Mieten in den letzten zehn Jahren um 24% gestiegen sind.
Gentrifizierung: Theorie und Praxis
Von Gentrifizierung spricht man, wenn ein Stadtviertel für eine wohlhabendere Schicht attraktiver wird und Bewohner:innen mit niedrigeren Einkommen von dort verdrängt werden.
In Zürich unterstreicht dieser Prozess eine grössere Wohnraumkrise, bei der die Nachfrage nach Luxusimmobilien die Stadt nachhaltig verändert.
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Gentrifizierung ist weder als Phänomen noch als Konzept neu. Phillip L. Clay, Professor für Wohnbaupolitik und Stadtplanung am MIT, befasst sich schon länger ausführlich mit der Problematik und beschreibt in seinem ein Buch “Neighborhood renewal: middle-class resettlement and incumbent upgrading in American neighborhoods” den Wandel amerikanischer Städte.
Clay beschreibt in seinem Buch fünf Phasen der Gentrifizierung: In der ersten Phase – der “Pionierphase” – lassen sich Künstler:innen, Bohémiens oder risikofreudige Personen in heruntergekommenen Stadtteilen nieder und werten sie schrittweise auf. In einer zweiten Phase ziehen Angehörige der Mittelschicht ins Quartier und beschleunigen die Investitionen.
Phase drei bringt dann umfangreichere private und öffentliche Investitionen, meist unter der Federführung grösserer Bauunternehmen. In den letzten beiden Phasen verwandelt sich das Quartier in ein hochpreisiges Stadtviertel.
Viele Menschen ziehen als Folge der gestiegenen Mieten und Immobilienpreise weg, darunter auch die ursprünglichen Pionier:innen und Menschen mit niedrigeren Einkommen.
Die Stadt Zürich passt ins Muster
Die Entwicklung in Zürich-West passt ziemlich gut zu Clays Beschreibung der Gentrifizierung: In den 1970er- und 1980er-Jahren entstanden in diesem Stadtteil politische Unruhen und eine aufmüpfige Jugendbewegung, ausgehend von Jugendlichen mit höherer Schulbildung, die sich in Zürich-West niedergelassen hatten.
Im damals noch stark industriell geprägten Quartier lebten zu dieser Zeit viele Menschen mit niedrigem Einkommen. Dieser Wandel stellte die erste Phase der Gentrifizierung dar, also die Pionierphase.
Gleichzeitig entstand um den Platzspitz im Herzen von Zürich eine der grössten offenen Drogenszenen der Welt, was der Stadt zweifelhaften Ruhm bescherte.
Das damalige Elend ist für Zürich noch heute ein kollektives Trauma. Im “Needle Park”, wie der Platzspitz international bekannt wurde, spritzten und rauchten täglich über 1000 Menschen harte Drogen.
Zum Vergleich: Im amerikanischen Philadelphia, das fast viermal so gross ist wie Zürich, zählt man im Stadtteil Kensington ca. 3000 Drogenkonsument:innen.
1995 liess die Zürcher Stadtrat die offene Drogenszene räumen und schickte die Süchtigen wieder zurück in ihre Heimatgemeinden. Für seinen Umgang mit der Drogenkrise und die wirksamen Massnahmen erhielt Zürich international viel Anerkennung.
Gleichzeitig leitete die Stadtregierung langfristige Projekte zur Entwicklung des urbanen Raums in die Wege, darunter auch in Zürich-West und angrenzenden Stadtteilen.
Das Besondere an Zürich: Die Phasen eins und zwei der Gentrifizierung hingen nicht direkt zusammen. Die zweite Phase war weniger die direkte Folge der Pionierphase als vielmehr das Ergebnis behördlicher Massnahmen, die zur Lösung eines ganz anderen Problems ergriffen worden waren.
In den letzten 20 Jahren hat sich Zürich-West tiefgreifend verändert und rasch die dritte Phase der Gentrifizierung durchlaufen: den Bauboom.
Ehemalige Industriekomplexe und verrufene Ecken des Quartiers wichen Hochhäusern wie dem Prime Tower, dem höchsten Gebäude Zürichs.
Darum herum finden sich heute Büroräumlichkeiten, Clubs, Restaurants, Studios und neue Wohnsiedlungen. Diese Veränderungen haben Künstler, Designerinnen und Architekten angezogen.
Öffentliche Investitionen in die städtische Infrastruktur wie die Verlängerung der HardbrückeExterner Link belegten den Übergang von der zweiten zur dritten Phase der Gentrifizierung: Das Quartier wurde für private Grossinvestoren attraktiv. Hochhäuser mit Sozialwohnungen wie die Hardau und das Lochergut wurden zudem immer beliebter.
Ähnlich wie die Barbican Towers in London gehören diese Siedlungen nun nicht mehr zum Stadtrand, sondern sind Teil der Kernstadt geworden, was der kreativen Mittelklasse sowohl ästhetisch als auch geografisch zusagt.
Solche Oasen mit bezahlbarem Wohnraum bleiben jedoch Mangelware. Insgesamt lebt die Arbeiterschicht in Zürich zunehmend weiter weg vom Stadtzentrum.
In Zürich-West hingegen hat längst der Beginn der vierten Phase eingesetzt: die eigentliche Gentrifizierung. Im Dokumentarfilm «PUSH» aus dem Jahr 2019 stellt ein Barbesitzer in Brooklyn, New York, fest, dass immer mehr Kreative in den Stadtteil ziehen, wodurch die Attraktivität des Viertels steigt, die Preise für Wohnraum anziehen und sich die angestammten Bewohner:innen ein Leben in Brooklyn letztlich nicht mehr leisten können.
“Woran erkennt man als erstes, dass man aus einem Stadtviertel bald wegziehen muss? Wenn die ersten Geschäfte für Markenkleider Einzug halten. Für ein Quartier gibt es nichts Schlimmeres als arme Leute mit Stil.”
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Stabilisierung? Schön wär’s!
Clays Theorien sind letztlich eine Vereinfachung und können der Komplexität der Gentrifizierung nicht wirklich gerecht werden. In der Realität sind die Prozesse deutlich vielschichtiger.
In wohlhabenden Städten liessen sich die einzelnen Phasen noch weiter unterteilen – oder aber sie werden gänzlich übersprungen. Findet neben wirtschaftlichem Wachstum und staatlichen Investitionen eine soziale Umschichtung statt, kommt es praktisch zwingend zur Gentrifizierung.
In der Frühphase bringt die Gentrifizierung wirtschaftliches Wachstum, bessere Infrastruktur, mehr staatliche Dienstleistungen und mehr öffentlichen Verkehr.
Zudem führt sie zu einer stärkeren Durchmischung der Bevölkerung, wobei die weniger Wohlhabenden davon profitieren, dass die Gutverdienenden ein besseres Dienstleistungsangebot einfordern.
Über diese Stabilisierung hinaus aber kann der Gentrifizierung kaum Einhalt geboten werden. In einigen Stadteilen wird der Wohnraum je länger, je weniger bezahlbar.
Ob Städte wie Zürich ins Muster der Gentrifizierungstheorien passen, ist dabei letztlich unerheblich. Vielmehr geht es um die Einsicht, dass Gentrifizierung eine Form von sozialer Umschichtung darstellt.
Angesichts der unaufhaltsamen Entwicklung ist durchaus fraglich, ob die Gentrifizierung jemals abgeschlossen sein wird. Viel eher verkörpert sie einen sozioökonomischen Strukturwandel, der niemals endet.
Die entscheidende Frage ist: In welche Richtung wollen wir uns entwickeln? Ohne Weitsicht von Regierungen und Stadplaner:innen könnte die angestammte Stadtbevölkerung leicht zum Bauernopfer grösserer Player werden.
In vielen Städten auf der ganzen Welt steht nicht mehr die Verbesserung der Lebensqualität im Vordergrund, sondern der Kampf um bezahlbaren Wohnraum als grundlegendes Menschenrecht.
Ohne aktive Steuerung laufen dynamische Stadtquartiere die Gefahr, dass sie zu trostlosen Gegenden werden wie Belgravia in London, wo Immobilien derart attraktiv sind, dass sie zu einer reinen Ware verkommen sind. Was droht, ist eine Stadt ohne Bevölkerung.
Editiert von Virginie Mangin und Eduardo Simantob, Übertragung aus dem Englischen: Giannis Mavris
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