Zeitgenössische Kunst bricht alle Rekorde
Ihre Werke erzielen Höchstpreise, ein Rekord jagt den andern: zeitgenössische Künstler durchleben goldene Zeiten. Diese Tendenz verdankten sie vor allem jungen Sammlern, erklärt Nadia Berri gegenüber swissinfo.ch. Die Schweizer Künstlerin lebt in London und unterrichtet am Sotheby's Institute of Art.
In nur zehn Minuten erzielte das Werk Three Studies of Lucian Freud, ein Triptychon von Francis Bacon aus dem Jahr 1969, an einer Auktion am 13. November 2013 bei Christie’s in New York den Preis von 142,4 Millionen Dollar und ist somit das weltweit teuerste Bild. Verschiedene andere Rekorde wurden am nächsten Tag an der Auktion bei Sotheby’s erzielt.
Diese astronomischen Ziffern sind ein Indikator für die Preisexplosion auf dem internationalen Kunstmarkt für zeitgenössische Kunst. Letztes Jahr wuchs der Markt trotz Krise um 15 % und erzielte zum ersten Mal über eine Milliarde Euro Gewinn, wie Artprice, die Weltmarktführerin für Kunstmarktinformationen, kürzlich bekannt gab. Ein Rekord, obwohl der Kunstmarkt als Ganzes einen Rückgang von 2,4 % verbuchen musste.
Die zeitgenössische Kunst wird heute höher gehandelt als etwa die Meister der Renaissance. Nadia Berri erläutert die Gründe für diese Situation und spricht über die Beschäftigungsmöglichkeiten, die der Kunstsektor bietet.
Das Kunstwerk «Three Studies of Lucian Freud», ein Triptychon von Francis Bacon, hält den neuesten Rekord. Es wurde am 13. November 2013 bei einer Auktion von Christie‘s in New York für 142,4 Millionen Dollar verkauft. Den alten Rekord hielt «Der Schrei» von Edvard Munch, der im Mai 2012 an einer Auktion bei Sotheby’s 119,9 Millionen Dollar erzielte. Es ist nicht gesagt, dass der neue Rekord lange bestehen bleibt, wenn man den Gang des Marktes betrachtet.
An der gleichen Auktion vom 13. November bei Christie’s wurde übrigens auch ein Rekord für ein Werk eines noch lebenden Künstlers erzielt, nämlich für die Skulptur: Balloon Dog (Orange) von Jeff Koons, die für 58,4 Millionen Dollar verkauft wurde. Rekordpreise für Werke von Künstlerpersönlichkeiten wie Christopher Wool, Ad Reinhardt, Donald Judd und Willem de Kooning wurden ebenfalls registriert.
Am nächsten Tag wurden an der Auktion bei Sotheby’s persönliche Rekorde für Andy Warhol (sein Silver Car Crash wurde für 105 Millionen verkauft), Cy Twombly, Agnes Martin, Martin Kippenberger, Brice Marden, das Künstlerkollektiv Bruce High Quality Foundation und Mark Bradford erzielt.
Gemäss einem Kommentar in der NZZ zeigt die heutige Entwicklung im Kunstmarkt, dass «sehr viel Geld im Umlauf ist, das nach einer sicheren Anlage sucht. Kunst gilt als solche. Die Käufer kommen aus immer mehr Ländern. Unter den letzten drei Bietern um den Bacon waren zwei aus Asien». Zudem würden die Höchstpreise ins wirtschaftliche Gesamtbild passen: «Wenn der Immobilienmarkt Blasen bildet, boomt die Kunst. Die Rekorde sind so ein Warnsignal.»
swissinfo.ch: Sie sind Künstlerin und Dozentin: Wie vereinbaren Sie diese zwei Berufe?
Nadia Berri: Für mich ist jede Lektion wie eine Performance. Ich vermittle Kunst und veranstalte Workshops, die auf praktischer Arbeit beruhen: Wirklichkeiten, die sich gegenseitig integrieren, aber eigenständig bleiben.
Auch innerhalb meiner Lehrtätigkeit treffen grundverschiedene Wirklichkeiten aufeinander: das Sotheby’s Institute of Art, das Museum Tate Modern und Charity Bow Arts.
swissinfo.ch: Wieso besteht ein so grosses Interesse an Kursen von Institutionen, die mit wichtigen Auktionshäusern in Verbindung stehen?
N. B.: Das Sotheby’s Institute of Art war ursprünglich «die Schule» des Auktionshauses. Doch seit 2002 gehört es zur Universität Manchester, auch wenn der Name des Auktionshauses weiter gebraucht wird und man einen engen Kontakt pflegt. Heute ist Kunst eine Möglichkeit zu arbeiten. Am Sotheby’s Institute of Art unterrichte ich seit 2008 zeitgenössische Kunstgeschichte, das Interesse an den Kursen ist gewachsen.
Den Kurs Art & Business begann ich als Privatdozentin mit rund 25 Studierenden, in den letzten drei Jahren hat sich die Zahl verdoppelt.
swissinfo.ch: Wer besucht die Kurse?
N. B.: Junge Leute aus aller Welt kommen nach London. Wer so einen Kurs wählt, muss zwei Eigenschaften mitbringen: einen hohen Grad an Fachwissen, das bereits im Herkunftsland angeeignet wurde, und Geld für die Ausbildung auf einem solch hohen Niveau. Oft sind es auch Leute, die eine neue Herausforderung suchen.
swissinfo.ch: Ist London die Hauptstadt der zeitgenössischen Kunst in Europa?
N. B.: Ja, das würde ich schon sagen, denn hier vereinen sich alle Tendenzen und Strömungen. Und es gibt die Museen, Auktionshäuser, Galerien und das Geld, aber auch Künstlergruppen, die ihre Kunst alleine produzieren und ohne «Vermittler» direkt mit dem Publikum teilen.
Mit Investitionen von einer Milliarde Dollar ist die 30-jährige Sheikha Al-Mayassa bint Hamad bin Khalifa Al-Thani die einflussreichste Persönlichkeit in der Kunstwelt. Die bedeutendste Zeitschrift ArtReview stellt jedes Jahr eine Rangliste der 100 wichtigsten Persönlichkeiten des ganzen Sektors zusammen, von den Galeristen zu den Kunstkritikern, von den Sammlern zu den Künstlern. Sie ist die jüngere Schwester des jetzigen Emirs von Katar, Sheikh Tamim Bin Hamad Al-Thani, Leiterin der Qatar Museums Authority und wird als wichtigste Mäzenin weltweit betrachtet.
In den Top Ten findet sich noch eine zweite Frau, die Deutsche Beatrix Ruf, sie rangiert auf Platz 7 und ist Direktorin der Kunsthalle Zürich und Mitglied des Expertengremiums des Kunstprogramms am CERN in Genf.
Unter den ersten zehn befinden sich auch zwei Schweizer. Iwan Wirth, Platz drei, Galerist und Kunsthändler aus Zürich, Co-Präsident und Eigentümer von Hauser & Wirth, einer der weltweit führenden Galerien für zeitgenössische Kunst mit Standorten in London, New York und Zürich.
An fünfter Stelle steht Hans Ulrich Obrist, auch er aus Zürich, Kurator, Kritiker, Kunsthistoriker und Co-Leiter der berühmten Serpentine Gallery, eines der wichtigsten Zentren für moderne und zeitgenössische Kunst in London mit Sitz in Kensington Gardens, Hyde Park.
swissinfo.ch: Da bewegen wir uns doch in einem Grenzbereich der Kunst. Wie kann man ein Werk zeitgenössischer Kunst bewerten?
N. B.: Eine Sache ist das Begreifen des Kunstwerkes und seiner wahren Botschaft, eine andere Sache ist die Wirkung beim Publikum. Der Geschmack ist persönlich und darf auch nicht beeinflusst werden, doch man soll sehr kritisch sein. Bloss weil ein Kunstwerk in einer Galerie ausgestellt wird, ist es noch keineswegs ein gutes Kunstwerk, es zeugt nur vom Geschmack des Galeristen.
Kommerzieller Wert und künstlerischer Wert sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Wie immer in der Kunst gibt es Modeströmungen. Angesagt ist momentan zeitgenössische Kunst, die von neuen Sammlern aus Russland und der arabischen Welt gekauft wird. Viele vertrauen dabei ihren Kunstberatern, doch oft behindern deren Ratschläge die individuelle Kreativität und die Wahlfreiheit der einzelnen Sammler.
swissinfo.ch: Warum wollen die neuen Sammler vor allem zeitgenössische Kunst?
N.B.: Weil sie Glamour verspricht und das gewisse Etwas vermittelt, das charakterisiert die neuen Sammler dieser Kunst. Unter ihnen gibt es auch seriöse Sammler, die wirklich etwas von jener Kunst verstehen, die berührt und eine Botschaft vermittelt.
swissinfo.ch: Wer ist heute in Mode?
N. B.: Es gibt gewisse Konstellationen, die ich als das «Murillo Syndrome» bezeichnen würde. Einem Sammler wird geraten, Werke eines bestimmten Künstlers zu kaufen, den andere bereits entdeckt haben, so wie das momentan mit Oscar Murillo geschieht, einem Künstler aus Kolumbien. Seine Popularität erinnert mich an jene von Jean-Michel Basquiat in den 1980er-Jahren, als seine Galeristin Annina Nosei ihn als die «echte» Stimme der Strasse präsentierte.
swissinfo.ch: Und die Schweizer Künstler?
N. B.: Alberto Giacometti ist ein grosser Künstler, und sein Name ist mit eindrücklichen Zahlen verbunden, während Paul Klee – auch er ein grosser Künstler, dem die Tate Modern eine wunderschöne Ausstellung widmet – auf Auktionen aber nicht den gleichen Erfolg erzielt.
swissinfo.ch: Gibt es einen Künstler, der sich auf Auktionen gut verkauft, nicht weil er in Mode ist, sondern wegen seiner Botschaft?
N. B.: Auf Grund meiner Erfahrung würde ich den Franzosen Yves Klein nennen mit seiner Performance Zone de Sensibilité Picturale Immatérielle. Klein ist berühmt für seine monochromen Leinwände, die berühmtesten sind blau. (Sein Werk Le Rose du Bleu erzielte mit 23,56 Millionen Sterling im Juni 2012 einen Rekord, Anm. d. Red).
Er wollte den «absolut perfekten Ausdruck» dieser Farbe erreichen, was ihm nach unzähligen Versuchen auch gelang. 1956 liess Klein das Blau als International Klein Blue patentieren, das in der Kunstwelt als IKB bekannt ist.
swissinfo.ch: Welches Werk würden Sie, nach ihrem persönlichen Geschmack, einem Sammler empfehlen?
N. B.: Ganz sicher Erased de Kooning Drawing (1953) des Malers und Bildhauers Robert Rauschenberg. Es ist das weisse Blatt einer ausradierten Zeichnung, die er von Willem de Kooning, einem Vertreter des abstrakten Expressionismus, erhielt. Es wird im San Francisco Museum of Modern Art (SFMOMA) aufbewahrt. Wer weiss, was dieses Werk auf Grund seiner Geschichte an einer Auktion einbringen würde.
Nadia Berri wurde in Zürich geboren. Seit 2008 gibt sie Kurse in zeitgenössischer Kunst für Erwachsene am Sotheby’s Institute of Art und arbeitet als Kunstvermittlerin für Kinder an der Tate Modern. Sie identifiziert sich gerne mit dem Motto des amerikanischen Künstlers John Cage: «Kunst ist ein nützliches Spiel».
Besonders aktiv ist sie in kollektiven Projekten wie dem LUPA (Lock Up Performance Art), das zwischen 2011 und 2013 in London stattfand. Künstler stellten jeden Monat an einem Abend in einer Garage aus, das Publikum war nicht nur Zuschauer, sondern machte mit.
Unter ihren Werken bei LUPA ist besonders Now, Voyager, hervorzuheben, eine Performance mit einem riesigen roten Ball und einer Pumpe.
Basis ihrer Kunst ist die Multi-Disziplinarität, zu sehen in einer ihrer letzten Arbeiten: Darren, eine Video-Sammlung von Geschrei aneinander gereihter Passanten.
(Übertragung aus dem Italienischen: Christine Fuhrer)
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