Zürich festigt Ruf als Mekka für Gegenwartskunst
Mit dem neuen Komplex Löwenbräukunst unterstreicht das Wirtschafts- und Finanzzentrum Zürich seinen Anspruch als Schweizer Hauptstadt der Gegenwartskunst. Das frisch renovierte ehemalige Brauereiareal beherbergt Museen, Galerien, Verlage und eine Bibliothek.
Das Verschwinden von zehntausenden Arbeitsplätzen in Industriebetrieben machte in den 1970er- und 1980er-Jahren auch vor Zürich nicht Halt. Im Industriequartier im Westen der Stadt sowie in der nördlichen Agglomeration Oerlikons schlossen grosse und kleine Fabrikbetriebe ihre Tore für immer.
Aus dem Schock für die Stadt von damals ist heute, knapp ein Viertel Jahrhundert später, quasi ein Segen geworden. Neu-Oerlikon und Zürich-West, die beiden ehemaligen Industriehochburgen, glänzen heute mit hypermoderner Architektur. Für die Grüne Ruth Genner, Mitglied der Zürcher Stadtregierung, sind diese Gebäude wie «Schmetterlinge nach der Metamorphose».
Nicht neu, aber in neuer Frische erstrahlt im Industriequartier, pardon Zürich-West, die «Löwenbräukunst». Das neue Wahrzeichen der Gegenwartskunst ist offiziell seit Ende August geöffnet. Die zweijährigen Umbauarbeiten wurde unter der Ägide der Architekten Gigon/Guyer und des Ateliers WW durchgeführt.
Die Kunst ist bereits seit Mitte der 1980er-Jahre in Zürich-West präsent. Angezogen von riesigen Räumen, die leer standen, kamen die ersten Galerien, um die Industrieruinen mit neuem Leben zu füllen. Im Löwenbräu-Areal, einer ehemaligen Brauerei im Klinkerbaustil, siedelten sich 1996 die Kunsthalle, das Migros Museum für Gegenwartskunst sowie mehrere namhafte Galerien an.
Auch gerade diesem neuen Kunstmekka verdankt die Stadt Zürich heute ihren Ruf als Schweizer Hauptstadt der Gegenwartskunst. Zwar gibt es die «Art Basel», aber am Rhein ist die Zahl der Galerien überschaubar geblieben. Und Genf fokussiere eher auf seine Geschäfte für Uhren und Bijouterie, sagt ein ehemaliger Galerist, der nicht namentlich genannt werden möchte.
Zürcher Tradition und Basler Modell
«In den 1990er-Jahren stieg die Zahl der Galerien überall, nicht nur in Zürich», sagt Claudia Jolles, Chefredaktorin des Magazins Kunstbulletin. Zürich aber habe sich auf eine Tradition berufen können. «Während des Zweiten Weltkrieges hatten sich viele Kunsthändler an der Limmat niedergelassen. Der Aufstieg Zürichs zu einem Zentrum für Kunst kam also nicht plötzlich.»
Jolles schreibt dem neuen Zentrum Löwenbräukunst eine Pionierrolle zu. «Museen und Galerien an einem Ort vereint, ist für internationale Händler und Sammler von entscheidendem Vorteil. Und dies erst noch in unmittelbarer Nähe des Flughafens», sagt Claudia Jolles.
Angestossen wurde das Projekt von privater Seite. Danach spielte aber die rot-grüne Stadtregierung eine sehr aktive Rolle, und das nicht aus purem Sinn für Kunst. In der Stadt Zürich steuert der Sektor Kunst und Kreativität 7,7% zur gesamten Wertschöpfung bei, gegenüber 4,2%, dem Schnitt der anderen Städte. «Wir wollen ein Zürich im Gleichgewicht: Nicht nur die Infrastrukturen bereitstellen, sondern auch die Künste sichtbar machen», sagt Ruth Genner.
Verbindung Galerien-Museen
Ein Gewinn war auch die Basler Mäzenin Maja Hoffmann. Ihre Stiftung Luma stellt Künstlern Räume zur Verfügung und vergibt Stipendien an Kuratorinnen und Kuratoren. Dieses «Basler Modell» einer Privatperson als Kunstfördererin ist neu an der Limmat. In Zürich ist das Mäzenatentum mit Unternehmen verbunden, die auf «sichere» Werte setzen.
«Die Konzentration von Galerien und Museen am selben Ort schafft neue Dynamiken», sagt Claudia Jolles. Sie stärke auch das Profil Zürichs als Kulturstadt. «Zudem kann diese Konstellation helfen, Schwellenängste abzubauen, die ein Teil des Publikums vor dem Betreten einer Galerie hat.»
Konkurrenz?
Die Allianz von «sicheren Werten» – Museen und grosse internationale Galerien wie Eva Presenhuber, Hauser & Wirth, Bob van Orsouw – und jungen Galeristen aus der «Off-Szene» wie etwa dem aus dem Kanton Waadt stammenden Jean-Claude Freymond-Guth zeigt sich auch in der Architektur: Löwenbräukunst ist eine harmonische, gelungene Verbindung von alter Bausubstanz und Moderne.
Müssen die übrigen Zürcher Galerien befürchten, dass das kunstsinnige Publikum nur noch ins neue Zentrum in Zürich West strömt? «Nein, im Gegenteil», ist Claudia Jolles überzeugt. «Alle werden mehr Besucher haben. Zürich besteht aus zahlreichen Mikrokosmen, und die Dynamik geht oft von der ‹Off-Szene› aus. Diese ist keineswegs tot, sondern erneuert sich ständig. Und einige ihrer Exponenten haben den Durchbruch geschafft», so Jolles.
Zu diesen gehört Mark Müller, dessen Galerie sich nur fünf Minuten vom neuen Zentrum entfernt befindet. Bewusst hat er den Schritt ins Löwenbräukunst nicht gemacht. «Zu den abschreckenden Mietpreisen kommt, dass ich eine gewisse Distanz vorziehe», sagt Müller. «Meine Besucher kommen nicht zufällig zu mir. Aber wir profitieren alle von der direkten Nachbarschaft zu Löwenbräukunst.»
Die Leaderstellung Zürichs in Sachen Gegenwartskunst in von Basel bis Genf unbestritten. «Eine grosse Rolle spielt sicherlich, dass private Sponsoren nicht abwarten, bis die öffentliche Hand die Sache in die Hand genommen hat», sagt Katie Kennedy Perez von der Genfer Galerie Phillips de Pury & Company.
«Die Synergien, die durch die Zusammenarbeit von Behörden und Privaten entstehen, bei uns in Genf etwa mit der Vereinigung des Quartier des Bains, sind sehr fruchtbar», so die Erfahrung von Katie Kennedy Perez.
1890-1986: An der Limmatstrasse 270 im Zürcher Industriequartier wird Bier gebraut. 1984 übernimmt die Brauerei Hürlimann das Areal, schliesst den Betrieb aber 1986.
1996: die 1985 gegründete Kunsthalle zieht in die leeren Gebäude. Dabei sind auch das neue Migros Museum für Gegenwartskunst, die Sammlung Daros von Thomas Ammann und Alexander Schmidheiny sowie mehrere internationale Galerien.
2011: Gründung der Löwenbräu-Kunst AG, an der die Stadt Zürich, die Kunsthalle und eine Tochtergesellschaft der Migros beteiligt sind. Das Kapital von 27 Mio. Franken ist in drei gleiche Teile aufgeteilt. Die drei Aktionäre haben das renovierte und vergrösserte neue Zentrum der Immobiliengesellschaft PSP abgekauft. Der Kaufpreis betrug 65 Mio. Franken.
2012: Ende August wurde «Löwenbräukunst» als neues Zentrum für Gegenwartskunst eröffnet.
Mieter sind:
Migros Museum für Gegenwartskunst
Kunsthalle
Galerie Hauser & Wirth
Luma Westbau/POOL etc.
Galerie Eva Presenhuber
Kunstedition JRP
Galerie Freymond-Guth
Galerie Bob van Orsouw
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)
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