Ein Gegner des Alpenkitsches
Dieses Jahr jährt sich der Geburtstag des Schriftstellers Gottfried Keller zum 200. Mal. Der Schauplatz seiner Geschichten, Seldwyla, ist sprichwörtlich geworden, und noch heute gehören Kellers Texte in Deutschschweizer Schulen zur Pflichtlektüre. Keller wehrte sich vehement dagegen, ein Nationalschriftsteller zu sein, das war für ihn Alpenrosenkitsch, sagt Professorin Ursula Amrein im Gespräch mit swissinfo.ch.
Ursula Amrein
Sie ist Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Zürich. Zum 200. Geburtstag Kellers ist von ihr:
- ein Handbuch zum Leben, Werk und Wirkung des Dichters mit zahlreichen Abbildungen erschienen. (Stuttgart 2018)
- Gemeinsam mit Michael Andermatt hat Ursula Amrein eine kleine Anthologie mit Passagen aus Kellers Werken und Briefen herausgegeben: Keller zum Vergnügen. Reclam 2019.
swissinfo.ch: Die bekanntesten von Kellers Geschichten spielen im erfundenen Ort Seldwyla – was ist das für ein Kosmos?
Ursula Amrein: In Seldwyla spielen die Novellen, die Keller während seiner Zeit in Berlin, 1850 bis 1855 entworfen hat. Das literarische Dorf, das Keller konstruiert, liegt an einem Sonnenhang, ist von einem Wald umgeben und wurde abseits eines Flusses gebaut. Es nimmt nicht direkt an den Handelsbeziehungen teil und ist in gewisser Weise ein Gegenmodell zum damals aufkommenden Kapitalismus: Man lebt vom Holz des Waldes, es geht nicht um Geldakkumulation.
Das Leben verläuft in Zyklen, die jungen Seldwyler erwerben sich ein gewisses Einkommen, machen Konkurs, und das Spiel beginnt wieder von vorn. Dabei leben sie lustig und vergnügt. Sie sind durchaus ambivalent gezeichnet. Doch ab und zu geraten Aussenstehende in Konflikt mit dieser Gesellschaft. Über die schreibt Keller.
Oft sind es Figuren, die aufwärts oder vorwärts streben – Fortschritt findet in Seldwyla statt, bleibt aber die Ausnahme. Später jedoch wird er schreiben, dass Seldwyla sich aufgelöst habe und alle nur noch mit Notizbüchlein herumlaufen und schreiben, wie die Geschäfte laufen – das Dörfchen Seldwyla hat sich in der Welt aufgelöst.
swissinfo.ch: Wieso geht ein Zürcher in die wachsende Grossstadt Berlin und schreibt über ein erfundenes kleines Nest?
U.A.: Keller arbeitet in Berlin vor allem an seinem autobiografisch geprägten Roman «Der grüne Heinrich». Gleichzeitig phantasiert er sich kürzere Geschichten aus, die er rasch publizieren und damit Geld verdienen will. Berthold Auerbach und dessen Dorfgeschichten, aber auch Jeremias Gotthelf inspirieren ihn. Gotthelf war in Berlin grosse Mode, das hatte so einen exotischen Schweizer Touch.
swissinfo.ch: Also befriedigte Keller damit die Sehnsucht nach Schweizer Idylle?
U.A.: Keinesfalls. Das wäre eine arge Verkennung seiner Qualität. Keller besitzt eine unglaubliche Formulierungsgabe, die seine Literatur komplex und hintergründig macht. Das geht verloren, wenn man ihn zum antimodernen Heimatdichter erklärt und ihn damit auch für politische Zwecke einspannt, was oft geschah.
Sein 100. Geburtstag wurde 1919, ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gefeiert, sein 50. Todestag 1940, mitten im Zweiten Weltkrieg. Keller bot sich bei beiden Jubiläen als der Schriftsteller an, der als Schweizer für eine kulturelle und politische Unversehrtheit einstehen und damit das Gegenbild zu einer zerstörten Welt abgeben konnte. Das funktionierte mit frühen Gedichten wie «Oh mein Heimatland» auch gut. Doch er selbst wehrte sich vehement dagegen, ein Nationalschriftsteller zu sein, das war für ihn Alpenrosenkitsch.
swissinfo.ch: Was für eine Rolle mass er seinem Schreiben bei?
U.A.: Keller hat seine Texte oft pädagogisch gerechtfertigt. Er wollte die Gesellschaft formen, indem er ihr einen Spiegel vorhielt, in der sie sich ein wenig schöner sah, damit sie am Schluss glaubte, so zu sein – und auch danach handelte. Literatur und Politik sind bei Keller vielfältig vermittelt.
swissinfo.ch: Inwiefern?
U.A.: Keller kam aus einer Handwerkerfamilie. Sein Vater, der früh starb, war Drechslermeister und kämpfte als früher Liberaler für bürgerliche Rechte und eine allgemeine Bildung. Doch das spielte für Keller lange keine Rolle, als 20-Jähriger wollte er in München Maler werden – was scheiterte.
Als er zurückkehrte, befand sich die Schweiz mitten in konfessionellen Auseinandersetzungen. Keller war hier voll dabei: Er nahm 1844/45 an zwei Freischarenzügen gegen das katholische Luzern teil, seine erste Veröffentlichung überhaupt war ein antijesuitisches Kampfgedicht. Hier kam er in Kontakt mit den radikal-liberalen Kreisen, die entscheidend zur Gründung des Bundesstaats 1848 beitrugen, denen er später aber auch mit Kritik begegnete.
swissinfo.ch: Weshalb?
U.A.: Die Schweiz mit ihrer demokratischen Verfassung war 1848 innerhalb Europas politische Avantgarde. Keller hielt sich anschliessend für sieben Jahre in Deutschland auf, zunächst in Heidelberg und dann in Berlin. Als er zurückkehrte, sah er ein System an der Macht, das der Freiheit der Wirtschaft den Vorrang gab.
Er sah das liberale Glücksversprechen von 1848 bedroht und kämpfte gegen die Tendenz, aus der Schweiz eine «Fabrikstadt» zu machen, in der die Schere zwischen arm und reich aufgeht. Publizistisch trat er gegen Alfred Escher an, dem er «geldstolzes» Gebaren vorwarf.
swissinfo.ch: Wie zeigte sich diese Distanzierung in seinem Werk?
U.A.: In seinem letzten Roman, «Martin Salander» (1886), beschreibt er, wie Politik zu einem hohlen Spiel für Egozentriker wird und wie Banken zusammenkrachen. Das ist ein hochpessimistischer Roman, der die Ideale von 1848 in der Schweiz verraten sieht.
Keller tritt gegen einen ungebrochenen Fortschrittsoptimismus an und vergleicht den Fortschritt mit einem Käfer, der stets um eine runde Tischplatte irre. Das ist ein sehr starkes Bild, hier kommt er zum Zyklischen zurück, das in Seldwyla herrschte, aber in negativ gewendeter Form.
Dieser Gottfried Keller taugt nicht zum harmlosen Idyllenschreiber.
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