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«Aids ist in Afrika überall sichtbar»

In Afrika leben Millionen von Kindern, die durch Aids ihre Eltern verloren haben. Keystone

Der Weltaidstag vom 1. Dezember erinnert alljährlich an die Immunschwächekrankheit, die noch immer grassiert und vor allem im südlichen Afrika immenses Leid bereitet.

Was der schwarze Kontinent braucht und wieso die Fortschritte nach 25 Jahren Aids gering sind, erklären zwei in der Schweiz lebende afrikanische Experten im Gespräch mit swissinfo.

«Zwei Drittel aller HIV-Infizierten leben in Afrika. Aids ist für einen afrikanischen Arzt harte Realität. Überall trifft man auf seine Patienten: in den Strassen, im Bus. Es ist ein sichtbares soziales Problem», sagt der Arzt Charles Senessie aus Sierra Leone.

Er plädiert für mehr Forschung in den afrikanischen Ländern, um die Ausbreitung von Aids in Afrika einzudämmen.

Der Aids-Experte, der seit 2004 in der Schweiz lebt, hat das afro-europäische Forschungs-Netzwerk (AEMRN) aufgebaut.

Forschung: der Schlüssel zum Erfolg

«Trotz zahlreicher internationaler Konferenzen mit Tausenden von Teilnehmenden, trotz Millionen von Dollars, Schweizer Franken und Euros, die jedes Jahr nach Afrika gepumpt werden, sind wir nicht viel weiter als vor 20 Jahren.» Das Problem sei nicht das Geld, sagt Senessie, davon sei genügend vorhanden. Es werde aber nicht am richtigen Ort eingesetzt.

«Die Statistiken der UNO zu Aids basieren auf Schätzungen und Hochrechnungen. Uns fehlen genaue Daten über die Zahl der Infizierten und das Ausmass der Krankheit. Programme können nur Wirkung zeigen, wenn präzise Erhebungen vorliegen.»

Informationsgraben

Als grosse Herausforderung bezeichnet Senessie die Aufklärung der Bevölkerung: «Die Analphabetenrate ist sehr hoch, in Sierra Leone liegt sie bei 80%. Zudem sind ländliche Gebiete häufig schwer zugänglich, Strassen fehlen.»

Die Leute über die Risiken einer Aids-Infizierung, über ihr Sexualverhalten aufzuklären, sei alles andere als einfach, sagt der kongolesische Soziologe Johnson Belangenyi, der als Koordinator und Übersetzer für AEMRN tätig ist.

«Wir müssen Leute vor Ort instruieren, damit sie die westliche Fach-Terminologie übersetzen. Diese Ausdrücke existieren nicht in den afrikanischen Sprachen.»

Das Problem sei aber nicht nur die Sprache. Vor allem ältere Generationen aus den Dörfern, glaubten, HIV habe mit ihnen nichts zu tun. «Unsere Message dringt nicht durch», betont Charles Senessie.

Polygamie

Polygamie sei in Afrika nach wie vor an der Tagesordnung. Vier oder fünf Frauen zu haben, sei legal, Stammesführer hätten manchmal deren zehn.

«Wird eine Person angesteckt, trifft es auch alle anderen. Diese Kette zu durchbrechen, ist sehr schwierig. Wir versuchen, vor allem die jüngere Generation über diese gefährlichen Praktiken aufzuklären.»

Laut Belangenyi gehen sehr viele kranke Menschen nicht ins Spital, sondern behandeln die Symptome selber. «Wenn sie husten, nehmen sie Hustensaft oder traditionelle Medizin wie Kräuter und Wurzeln.»

Wirksame Aids-Medikamente würden häufig abgesetzt, sei das aus Kostengründen oder weil die Leute nicht an deren Wirkung glaubten, sagt Senessie.

Auch wenn die Medikamente an afrikanische Patienten verbilligt abgegeben werden, sind sie für viele doch zu teuer. «Sie nehmen sie ein, zwei Monate und setzen sie dann ab. Nachher geht es ihnen schlechter als zuvor.»

Aberglaube

Gemäss den Beobachtungen von Johnson Belangenyi ist Aids für die Bevölkerung zu wenig sichtbar: «Die Krankheit tritt nicht gleich nach dem sexuellen Kontakt auf. Die Menschen sterben an Tuberkulose oder an Lungenentzündung. Sie begreifen nicht, dass HIV dahintersteckt.»

Zudem glaubten die Leute in Afrika nicht, dass Menschen einfach so an Krankheiten sterben. «In Kongo zum Beispiel fragt man: ‹Wer hat ihn getötet? Wurde er von jemandem verhext?› Dieser Aberglaube steht im Widerspruch zur Wissenschaft.»

Wenn der Aidstod eines Prominenten, wie beispielsweise des Präsidenten-Sohnes aus Sambia, offiziell bestätigt werde, glaubten es die Leute hingegen.

Besonders schlimm sei die Verbreitung in kriegsversehrten Ländern wie Kongo, Sudan, Liberia, Sierra Leone, wo Vergewaltigungen vorkommen, der Krieg eine Behandlung der HIV-Positiven und Kranken verunmöglichte, betont Belangenyi.

Förderung privater Projekte

Der Arzt Senessie wünscht insbesondere, dass der Privat-Sektor gestärkt wird und die Gelder statt zu den Regierungen direkt in konkrete Projekte fliessen.

Als Beispiel nennt er die Aids-Klinik des Schweizer Arztes Ruedi Lüthy in Harare, Zimbabwe, die seit 2003 über 1300 mittellose HIV-Patienten behandelt hat.

Oder Solidarmed, eine Schweizer Stiftung, die in verschiedenen Ländern Afrikas in der Prävention und Behandlung von Aids tätig ist.

Mit Gottes Hilfe

Trotz des unendlichen Leids in Afrika hofft und glaubt Senessie, dass in den nächsten Jahren in der Bekämpfung von Aids Fortschritte möglich sind. «Der ‹Manpower› ist vorhanden, auch in Afrika.»

Johnson Belangenyi meint zum Schluss: «Den Leuten bleibt im Moment nur der Glaube an den allmächtigen Gott. Sie beten, dass er der Seuche ein Ende bereitet. Der Glaube hilft ihnen, zu überleben.»

swissinfo, Gaby Ochsenbein

Ende 2007 werden laut der UNO weltweit 33,2 Mio. Menschen mit dem HI-Virus leben, das sind 16% weniger als Ende 2006.

2,5 Mio. haben sich neu infiziert, 5800 täglich.

2,1 Mio. starben an Aids, 5700 pro Tag.

33’000 der Toten kamen aus Nordamerika und Europa, 1,6 Mio. aus Afrika.

In Afrika leben 22,5 Mio. Aids-Infizierte, das sind fast zwei Drittel aller HIV-positiven Menschen.

In der Schweiz leben 25’000 mit dem Virus.

Der Weltaidstag wurde erstmals 1988 von der Weltgesundheits-Organisation WHO ausgerufen.

Organisiert wird er jeweils am 1. Dezember von UNAIDS, einem Koordinierungs-Programm der Vereinten Nationen.

Der Weltaidstag ist ein Tag der Solidarität mit den Menschen mit HIV und Aids.

Motto 2007: «Wir übernehmen Verantwortung – für uns selbst und andere».

Das Aidsvirus zerstört eine Gruppe von Blutzellen, die an der Koordination des Immunsystems beteiligt sind. Damit werden die Infizierten anderen Krankheiten weitgehend schutzlos ausgeliefert.

Medikamente können den Verlauf der Krankheit nur bremsen, das Virus aber nicht aus dem Körper drängen.

Das Netzwerk Afro-European Medical and Research Network (AEMRN) dient dem Wissens- und Erfahrungsaustausch zwischen Europa und Afrika.

Die Nichtregierungs-Organisation unterstützt und initiiert Projekte in den Bereichen der medizinischen Vorsorge, Bildung und Hilfe vor Ort.

Hauptsitz des Vereins ist Bern.

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