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Angriffe auf Geldautomaten in der Schweiz: Die Politik fordert Grenzkontrollen

Eine durch eine Detonation beschädigte Raiffeisen-Filiale
Die Polizei untersucht die Folgen eines Geldautomatenangriffs in Biere, in der Westschweiz, im Februar 2023. Keystone / Jean-Christophe Bott

Hinter den Geldautomatenüberfällen in Schweizer Kleinstädten- und Dörfern stecken gut organisierte ausländische Banden, sagt die Polizei. Die Politik will jetzt die Grenzsicherung verstärken.

In einer Nacht auf Montag in diesem Frühling wurden die Bewohner:innen des verschlafenen Dorfes Jegenstorf im Kanton Bern um 2 Uhr morgens jäh von einer Explosion aus dem Schlaf gerissen. Die Detonation zerstörte den Geldautomaten der örtlichen Bank und richtete auch am Gebäude erheblichen Schaden an.

Laut Polizeiangaben haben Zeug:innen drei dunkel gekleidete Personen gesehenExterner Link, die zu Fuss geflüchtet waren. Es war zunächst unklar, wie viel Geld sie erbeutet hatten.

Anderthalb Stunden später in der gleichen Nacht sprengten Diebe einen Geldautomaten an einer Tankstelle in Küssnacht am Rigi in der Zentralschweiz.

Der Automat wurde ebenfalls komplett zerstört und der Laden der Tankstelle beschädigt. Es gab keine Verletzten. Die Schwyzer Kantonspolizei geht davon aus, dass die Täter:innen mit dem Bargeld aus dem Automaten geflohen sind.

Ein europäisches Problem

Die spektakulären Raubzüge sind Teil einer Kriminalitätswelle, welche die Schweiz und andere europäische Länder, insbesondere DeutschlandExterner Link, seit sechs Jahren heimsucht und die Bewohner:innen mit nächtlichen Explosionen terrorisiert, vor allem in grenznahen Kleinstädten und Dörfern.

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“Das Phänomen betrifft nicht nur die Schweiz, sondern ganz EuropaExterner Link. Die Schweiz ist und bleibt jedoch ein attraktives Ziel für Geldautomatenangreifer”, sagt Mélanie Lourenço, Sprecherin des Bundesamtes für Polizei (Fedpol) gegenüber SWI swissinfo.ch.

Die Polizei macht ausländische Banden verantwortlich, die sich über die Grenze in die reiche Schweiz begeben, schlecht geschützte Geldautomaten in abgelegenen Dörfern sprengen und sich mit Tausenden von Schweizer Franken davonmachen.

Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist Bargeld in der Schweiz nach wie vor ein beliebtes Zahlungsmittel.

Die Zahl der Angriffe nimmt stetig zu. Im Jahr 2018 gab es insgesamt 18 gemeldete Angriffe auf Geldautomaten in der Schweiz, bei denen Sprengstoff und Gas zum Einsatz kamen oder Automaten mit einem Stahlseil herausgerissen wurden. Diese Zahl stieg auf 57 im Jahr 2022, bevor sie im letzten Jahr auf 32 zurückging.

Trotz des Rückgangs ist die Zahl der Automaten-Sprengungen konstant hoch, und sie gibt weiterhin Anlass zur Sorge. Letztes Jahr waren es laut Fedpol 19 Angriffe, in diesem Jahr sind es bereits 15.

Raffiniert und rücksichtslos

Die Zahlen erzählen nur einen Teil der Geschichte, sagt die Schweizer Polizei, welche die Banden als “kreativ, perfekt organisiert, schnell und skrupelloser denn je” beschreibtExterner Link.

Für etwa die Hälfte der Raubzüge mit Sprengsätzen seien rümänische Banden verantwortlich. Sie hätten vor 20 Jahren begonnen, Geldautomaten in ganz Europa ins Visier zu nehmen, auch in der Schweiz, schreibt das Fedpol in seinem im letzten Monat veröffentlichten Jahresbericht 2023.

Die Ermittlungen zeigenExterner Link, dass die Kriminellen Räumlichkeiten in den Nachbarländern als Basis für die Planung und Logistik mieten. Die Überfälle werden in der Regel von drei oder vier Personen durchgeführt, die oft mehrere, manchmal gestohlene Fahrzeuge sowie falsche Nummernschilder benutzen.

Schnelligkeit ist das A und O: Laut Fedpol dauern die Überfälle nicht länger als vier bis fünf Minuten.

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Viele der anderen Angriffe würden von Banden aus den Niederlanden verübt, oft von Kriminellen marokkanischer Herkunft, so das Fedpol.

“Sie sind jung und Teil einer Subkultur, welche die Geldautomatenüberfälle in Musikvideos zelebriert. Sie waschen das gestohlene Geld in Schweizer Casinos und verwenden es vermutlich auch zur Finanzierung von Drogengeschäften”, heisst es in dem Jahresbericht.

Wie die Täter:innen fangen?

Die Schweizer Behörden hatten bisher nur begrenzten Erfolg bei der Ergreifung und Verurteilung der an den Anschlägen beteiligten Kriminellen.

Die erste strafrechtliche Verurteilung eines Geldautomaten-Sprengstoffattentäters erfolgte im Jahr 2021, als ein rumänischer Staatsangehöriger zu 74 Monaten Gefängnis verurteilt wurde.

Im Jahr 2022 hat die Bundesanwaltschaft einen niederländischen Staatsbürger angeklagt, weil er Geldautomaten in der Schweiz sprengen wollte. In Zusammenarbeit mit französischen, niederländischen, deutschen und anderen Behörden gelang es dem Fedpol 2023, mehrere Personen zu verhaften.

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Und es sind Präventivmassnahmen in Vorbereitung: Im vergangenen Jahr hat die Schweizer Polizei Gespräche mit Finanzdienstleistern geführt, um Wege zu finden, die wachsende Zahl von Sprengstoffanschlägen auf Geldautomaten zu bekämpfen.

“Ein weiteres Treffen mit Vertretern von Banken, Geldautomatenbetreibern und -herstellern ist für den Herbst geplant”, so Lourenço gegenüber SWI.

Neben dem Schock über die Bombenanschläge ist eine direkte Folge für die Bewohner:innen von Dörfern, dass die örtlichen Geldautomaten verschwinden, und zwar für immer.

Nach einem Überfall im schweizerischen Dorf La Brévine am 27. Mai zum Beispiel kündigte die örtliche Kantonalbank an, dass sie mehrere Geldautomaten in Grenznähe ausser Betrieb nehmen werde.

Eine andere Kantonalbank in einer Grenzregion, die Banque Cantonale du Jura, hat nach Vorfällen in diesem Jahr ebenfalls den Zugang zu Geldautomaten eingeschränkt.

Parlamentarische Initiative

Die jüngste Flut von Anschlägen wird wahrscheinlich politische Konsequenzen haben. Berichten zufolge bereitet die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) eine parlamentarische Initiative vor, die auf eine Verschärfung der Sicherheit in den Grenzregionen abzielt.

Der Text schlägt die Wiedereinführung von mobilen Grenzpatrouillen rund um die Uhr und die Ausrüstung der wichtigsten Grenzübergänge mit Kameras vor.

Parallel dazu haben die Delegierten der SVP Ende Mai die Lancierung einer Volksinitiative beschlossen, welche die Rückkehr zu systematischen Grenzkontrollen fordert.

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Der Schweizer Parlamentarier Yvan Pahud, der hinter der parlamentarischen Initiative steht, lebt in Sainte-Croix nahe der französischen Grenze. Er hat früher als Grenzwächter gearbeitet.

“Als ich in den 2000er-Jahren meine Ausbildung machte, waren alle Grenzposten rund um die Uhr bewacht. Dann wurden die kleinen Grenzposten geschlossen und die Kontrollen durch mobile Teams ersetzt. Jetzt sind diese Teams nachts kaum noch aktiv. Für die Kriminellen ist das eine offene Tür”, sagte er der Zeitung Le Matin Dimanche.

Das Bundesamt für Zoll und Grenzschutz sagt, es habe die Kapazität, die Überwachung nach Bedarf auszuweiten. Im vergangenen Monat kündigte die Regierung an, dass sie die Grenzkontrollen während der Fussball-Europameisterschaft in Deutschland und der Olympischen Spiele in Paris verstärken will.

Dies wird jedoch Auswirkungen auf den Personalbestand und die Kosten haben.

Fabien Fivaz, Nationalrat der Grünen aus Neuenburg, sagt, dass Geld in der Tat das Hauptproblem ist, wenn es um die Verstärkung der Grenzkontrollen geht: “Die Ängste, welche diese Serie von Geldautomatenüberfällen auslöst, erfordern eine politische Antwort. Diese könnte darin bestehen, die Zahl der mobilen Teams zu erhöhen, da dies dem Schengen-Abkommen der EU entsprechen würde. Wenn sich die Volkspartei bereit erklärt, diese zusätzlichen Massnahmen mit Mitteln aus dem Armeebudget zu finanzieren, bin ich bereit, mitzumachen.”

Bundesrat wartet zu

Die Schweizer Regierung hat bisher davon abgesehen, spezifische Massnahmen zur Bekämpfung von Angriffen auf Geldautomaten zu ergreifen.

In ihrer Antwort auf eine parlamentarische AnfrageExterner Link von FDP-Nationalrat Olivier Feller im vergangenen Jahr erklärte der Bundesrat, er empfehle, die Schlussfolgerungen von Expertentreffen zu diesem Thema abzuwarten. Das solle “zur Schaffung gemeinsamer, koordinierter und für die gesamte Schweiz geltender bewährter Verfahren führen”.

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