Atomschmuggel trotz Aktenvernichtung vor Gericht
Die Affäre um die Schweizer Gebrüder Tinner dürfte trotz der "Aktion Reisswolf" des Bundesrats vor Gericht kommen. Dies, weil kürzlich Kopien der vernichteten Akten aufgetaucht sind, vermutet der zuständige eidgenössische Untersuchungsrichter.
Die Akten und Datenträger waren brisant. So brisant, dass das Bundesamt für Justiz (BJ) diese im Auftrag der Schweizer Regierung Ende letzten Jahres vernichten liess.
Allein 87 Aktenordner zur Atomschmuggel-Affäre um das Brüderpaar Tinner kamen dabei in den Reisswolf. Vermutlich auf Druck des amerikanischen Geheimdienstes CIA.
Doch nun stellte sich heraus, dass ein Teil der vermeintlich zerstörten Akten als Kopien beim Eidgenössischen Untersuchungsrichteramt (URA) in Bern liegt.
«Das URA ist gleichzeitig auch Eidgenössisches Haftgericht», sagt der zuständige Untersuchungsrichter Andreas Müller gegenüber swissinfo.
«In dieser Funktion hatte es im Jahr 2007 über ein Haftentlassungsgesuch von Urs Tinner zu entscheiden. Die Bundesanwaltschaft reichte in diesem Verfahren Auszüge aus den damals noch vollständigen Akten beim URA ein. Diese Auszüge wurden routinemässig archiviert.»
Jetzt geht es darum, abzuklären, wo in der Schweiz und im Ausland eventuell noch weitere Spuren des Falls vorhanden sein könnten. Zur Untersuchungs-Strategie und zur Frage, wie sich diese Suche gestaltet, will sich Müller aber unter Hinweis auf das laufende Verfahren nicht äussern.
Prozess wahrscheinlich
Dass diese verloren geglaubten Akten zugänglich sind, erhöht die Chance, dass der Fall Tinner eines Tages doch noch vor Gericht kommt. «Diese Möglichkeit besteht, gestützt auf die noch vorhanden Akten», bestätigt Müller.
«Ob Anklage erhoben wird, muss die Bundesanwaltschaft am Schluss der Voruntersuchung entscheiden. Im Zweifelsfall muss sie aber anklagen, denn der Grundsatz ‹in dubio pro reo›, also ‹im Zweifel für den Angeklagten›, gilt ausschliesslich für das urteilende Gericht», erklärt Müller die Sachlage.
Die Affäre um die Vernichtung von sensiblen Akten beschäftigt gegenwärtig auch die Politik: die Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel) des Parlaments will bis Ende November einen Bericht über ihre Untersuchungen vorlegen.
Verdächtige Geschäfte
Konkret geht es in diesem komplexen Fall um die Rolle des Schweizer Bruderpaars Urs und Marco Tinner und deren Vater Friedrich, die während Jahrzehnten in Kontakt zum Erbauer der pakistanischen Atombombe, Abdul Qader Khan, gestanden haben sollen.
Sie werden verdächtigt, für Libyen sensible Teile wie zum Beispiel Gaszentrifugen zur Anreicherung von Uran geliefert und damit gegen das Kriegsmaterial- und Güterkontrollgesetz verstossen zu haben.
Damit war die Familie Tinner schon seit Langem im Fokus des amerikanischen Geheimdienstes und der Schweizer Behörden gestanden.
Doch der Schweizer Justiz waren durch die eigenen Gesetze die Hände gebunden. So genannte Dual-Use-Güter – beispielsweise Maschinenteile, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können – unterstanden lange Zeit keiner Kontrolle.
Erst 1992 wurde deren Export per Notrecht bewilligungspflichtig; 1995 wurde dann das entsprechende Gesetz verabschiedet. Trotzdem machte die Familie anscheinend weiter mit ihren Geschäften.
Zwischen Oktober 2004 und September 2005 wurden mehrere Mitarbeiter von Khans Beschaffungs-Netz, unter ihnen die Schweizer Ingenieure Friedrich Tinner und seine Söhne Urs und Marco, verhaftet.
Einer der Söhne, Urs Tinner, soll nach eigenen Angaben den US-Geheimdienst CIA über die Geschäfte informiert haben. Diese mutmassliche Verbindung hat vermutlich zur Aktenvernichtungs-Aktion des Bundes Ende letzten Jahres geführt – die jetzt möglicherweise vergeblich war.
swissinfo, Christian Raaflaub
Die Schweizer Ingenieure Urs und Marco Tinner, die sich am Atomschmuggel für Libyen beteiligt haben sollen, sitzen seit mehreren Jahren in Untersuchungshaft.
Wegen Flucht- und Verdunkelungsgefahr kam es zu keiner Haftentlassung. Die Verteidigung zieht das Urteil ans Bundesgericht weiter.
Urs Tinner wurde im Oktober 2004 in Deutschland festgenommen und später an die Schweizer Behörden übergeben.
Marco wurde im September 2005 in Haft genommen. Auch Vater Friedrich sass wegen Verdacht auf Atomschmuggel mit Libyen vorübergehend in Haft.
Die drei sollen 2001 bis 2003 für Abdul Qader Khan, den «Vater der pakistanischen Atombombe», gearbeitet haben, der ein geheimes Atomwaffenprogramm für Libyen durchführte.
Die Affäre flog Anfang 2004 auf, nachdem Libyen sein Atomwaffenprogramm eingestellt und Khan illegale Atomgeschäfte mit Iran, Libyen und Nordkorea zugegeben hatte.
Eventuell Bundesstrafgericht Bellinzona oder Bundesgericht Lausanne: Beide mussten über das Haftentlassungsgesuch entscheiden.
Oberlandesgericht Stuttgart: Einem Geschäftspartner der Tinners wird dort der Prozess gemacht.
Internationale Atom-Energiebehörde IAEA Wien: Befasst sich mit dem Atomschmuggel-Ring um die pakistanische Atombombe.
Bundesarchiv Bern: Fichen des Staatsschutzes aus den 1970er- und 80er-Jahren.
Staatsarchiv St. Gallen: Akten aus einem Strafverfahren aus den 1980er-Jahren (versiegelt).
US-Geheimdienst: Tinners arbeiteten auch als Informanten für den CIA.
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