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Auf dem Weg zur Endlosgesellschaft

Virtuell durch Schweizer Strassen - das Google Street View-Auto. Google

Seit Dienstag bietet der Internet-Anbieter Google auch in der Schweiz die virtuelle Erkundung von Städten an. swissinfo unterhielt sich mit Zeitforscher Karlheinz A. Geissler über dieses virtuelle Flanieren: Was bringt es, wohin führt es unsere Gesellschaft?

swissinfo.ch: Nutzen Sie Google Street View?
Karlheinz A. Geissler: Nur ganz, ganz selten. Wenn ich in eine völlig fremde Stadt gehen muss, nutze ich es, um mir vorher einen kleinen Einblick zu verschaffen; wo liegt das Hotel, der Tagungsort und Ähnliches mehr, dafür nutze ich es als Information. Aber nicht, um einfach in Städten herum zu surfen.

swissinfo.ch: Mit Street View kann man virtuell ganze Städte schneller erkunden als zu Fuss. Eine toller Fortschritt?

K.A.G.: Es ist ein schneller Fortschritt, die Schnelligkeit gewinnt an Wert. Die Frage ist, ob es sinnvoll ist, wenn man die Welt erschliessen, erobern, erkunden will, dies schnell zu tun. Ich bezweifle es.

Man bekommt eine schnelle Welt mit, aber bei Google View bekommt man nicht mit, wie die Stadt riecht, wie sich die Stadt anfühlt, welche Aura sie hat, was sie ausstrahlt an Empfindungen, Erlebnissen, Erfahrungen.

Auf all das muss man verzichten. Eine reale Stadt ist etwas völlig anderes. Auf Google ist es sozusagen eine Secondhand-Stadt.

swissinfo.ch: Sehen Sie noch weitere Nachteile?

K.A.G.: Man kann Google Street View natürlich auch als kontrollierendes Instrument einsetzen. Wenn zum Beispiel jemand etwas von einer Stadt erzählt, können Sie das in gewissem Masse wenigstens auf visueller Basis nachprüfen, ob das stimmt, was die Person gesagt hat.

Man kann damit Menschen durchaus stärker kontrollieren, es ist also auch ein Herrschaftsinstrument.

swissinfo: Street View ist ein neues Mittel, um Zeit zu sparen – man muss nicht mehr zeitaufwändig in andere Städte gehen, man kann sie virtuell und schnell zu Hause am Computer erkunden.

K.A.G.: Ja, aber Zeit sparen ist ja nicht an sich etwas Sinnvolles, sondern nur, wenn man gleichzeitig erklärt, warum man Zeit spart. Zeit sparen an sich ist völlig sinnlos, besonders dann, wenn man eine Stadt erschliessen will – es ist sinnlos, da durchzurasen.

Jemand, der in 10 Minuten von A nach B kommt, hat den Zwischenraum zwischen A und B nicht erlebt, nicht erfahren, sondern ist wie ein Paket verschickt worden. So kann man natürlich Zeit sparen, aber man macht sich quasi zum Transportgegenstand, man reist jedoch nicht mehr.

swissinfo.ch: «Für die Mehrzahl der heute Lebenden ist das Zeitsparen zum Volkssport Nummer eins geworden. Was nichts anderes bedeutet, dass wir fürs Zeitsparen sehr viel Zeit aufwenden, nicht selten mehr, als wir dadurch sparen. Alle anderen sich auf diesem Globus tummelnden Geschöpfe ziehen es vor, die Zeit nicht zu sparen, sondern zu leben.» – Ein Zitat von Ihnen. Trifft das auch auf Street View zu?

K.A.G.: Natürlich. Wir haben eine grössere Vorbereitungszeit. Früher ist man irgendwohin gefahren oder geflogen und hat sich der Stadt ausgesetzt. Man hat bemerkt, oh, ich habe Schwierigkeiten, überhaupt hier rein zu kommen, es ist eine völlig andere Welt, diese Welt verstehe ich erst mal nicht.

Inzwischen klickt man auf eine Stadt, hat über Google View sozusagen einen ersten Eindruck und versucht, diesen Eindruck teilweise zu bestätigen und sagt, wenn man in der realen Stadt ist, ach, das sieht ja aus wie bei Google View und sieht die Unterschiede gar nicht mehr.

swissinfo.ch: Einerseits schauen wir gierig Street View – wie sieht’s bei meinem Nachbarn aus –, andererseits ärgern wir uns über «big brother is watching you» und bringen Datenschutzargumente vor. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?

K.A.G.: Dieser Widerspruch ist sehr real. Bei Anderen ist man neugierig und schaut, was dort los ist.

Wenn ich mir aber vorstelle, dass Tausende auf meinen Balkon schauen, dann ist das bedrohlich.

Ich möchte nicht, dass man permanent in mein Schlafzimmer reinschaut.

swissinfo.ch: Street View als Demokratisierungs-Instrument: Ein armer Mensch in einem Drittweltland ohne Geld für Reisen kann jetzt virtuell durch die Zürcher Bahnhofstrasse flanieren. Ein Fortschritt?

K.A.G.: Na ja, ein Fortschritt, das ist ein Bisschen lächerlich. Es kommt darauf an, was ich überhaupt unter Demokratie verstehe.

Was liefert Google View? Es liefert natürlich mehr an Informationen. Aber mehr Informationen sind noch keine Demokratie. Demokratie heisst mehr Mitwirkung, Aktivität. Und gerade dies fällt bei Google View weg.

swissinfo.ch: Schadet oder nützt Street View dem Tourismus?

K.A.G.: Ich glaube nicht, dass es dem Tourismus schadet. Der Tourismus wird dadurch eher angeregt, indem man zum Beispiel im Reisebüro via Google View etwas gezeigt bekommt. Das ist natürlich attraktiv, man freut sich vielleicht noch mehr, dorthin zu gehen.

Aber der Überraschungseffekt fällt weg. Das finde ich schade, denn das Schöne beim Reisen sind die Überraschungen. Diese sind ja nicht immer unangenehm. Aber man versucht eben, die unangenehmen Überraschungen auszublenden, indem man sich vorher via Google View informiert. Man eliminiert aber damit auch die angenehmen Überraschungen.

swissinfo.ch: Wohin geht eine «Street View-Gesellschaft» letzten Endes?

K.A.G.: Sie geht in Richtung Endlosgesellschaft. Eine Information macht die andere Information notwendig. Wir haben keine Kriterien mehr für das Aufhören, Schlussmachen, Beenden. Wir machen immer weiter. Und dieses ewige Weitermachen ist auf die Dauer kein befriedigendes Leben.

Durch Medien wie das Internet, das kein Ende, keine Pause, kein Aufhören kennt, gehen uns die Zufriedenheiten verloren, die wir durch ein Beenden, durch ein Vollenden erreichen können.

Das ist das heutige Problem. Das führt zu Depressionen, zu Verstimmungen, zu Unzufriedenheit, zu Vereinzelung und zu Langeweile, weil man nicht mehr kommuniziert.

Jean-Michel Berthoud, swissinfo.ch

Was bisher in US-, australischen, asiatischen und einigen europäischen Städten möglich war, bietet der Internet-Anbieter Google seit Dienstag mit Street View auch für 7 Schweizer Städte an.

Zürich, Bern, Genf und Umgebung sowie weitere Ortschaften im Drei-Seen-Land, dem Berner Oberland und Winterthur können auf dem Bildschirm besucht werden.

In den vergangenen Monaten hatte Google ganze Strassenzüge fotografisch aufgenommen.

Dank den auf Augenhöhe aufgenommenen 360-Grad-Aufnahmen lässt sich auf einfache Weise virtuell navigieren.

Der oberste Datenschützer der Schweiz, Hanspeter Thür, forderte Google bereits auf, Street View für die Schweiz unverzüglich vom Netz zu nehmen.

Google erfülle derzeit die abgesprochenen Auflagen zum Schutz der Privatsphäre nicht.

Zahlreiche Gesichter und Autonummern seien gar nicht oder nur unzureichend verwischt.

Google müsse die Software zur Verfremdung von Gesichtern und Kontrollschildern verbessern, wenn das Unternehmen Street View in der Schweiz weiter anbieten möchte.

Google müsse dafür sorgen, dass die veröffentlichten Aufnahmen im Einklang mit der Schweizer Rechtsordnung stünden. Anfang nächste Woche will Thür mit Google das weitere Vorgehen im Einzelnen festlegen.

Google zeigte sich überrascht. Das Unternehmen liess mitteilen, dass es sich stets im konstruktiven Dialog mit den Behörden befunden habe. Auch sei das Unternehmen zu weiteren Gesprächen bereit.

Beim Start vom «Street View» sei «das eine oder andere Gesicht oder Nummernschild übersehen» worden.

Geb. 1944 in Deuerling/Oberpfalz.

Studium der Philosophie, der Ökonomie und der Pädagogik in München.

Nach kurzer Zeit als Lehrer an berufsbildenden Schulen: Forschungs- und Lehrtätigkeiten an Universitäten in Karlsruhe, Augsburg, München.

Seit 1975 Professor für Wirtschaftspädagogik an der Universität der Bundeswehr in München. Emeritierung 2006.

Gastprofessuren an verschiedenen Universitäten im In- und Ausland.

Mitinitiator und Leiter des Projektes «Ökologie der Zeit» der Evangelischen Akademie Tutzing und Mitgründer der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik.

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