(Aus-)Wanderungen im Schengenraum
Bald wird der Schengenraum auch für die Schweiz Wirklichkeit. Doch freien Personenverkehr gab es bereits früher, zum letzten Mal vor knapp 100 Jahren. Jürg Frischknecht beschreibt dies im Lese-Wanderbuch "Auswanderungen".
Es ist noch kein Jahrhundert vergangen seit der letzten Periode freien Personenverkehrs. Nur damals unter ganz anderen Vorzeichen: Bis in die 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts waren die Schweizer selber die auswandernden Bittsteller. Heute hingegen wehren sich die Schweizer, im Verbund mit der EU, gegen Arbeit und Asyl suchende Einwanderer aus armen Drittländern.
Dabei glich das Verhalten der Schweizer von damals jenem der Einwanderer heute: Aus schierer Misere wanderten vor allem aus den Bergregionen massenhaft Leute aus – saisonal oder lieber noch für immer.
Auch heute noch führen viele Auslandschweizer der 3. oder 4. Generation ihre Schweizer Wurzeln auf die Auswanderer aus jenen Bergtälern zurück.
Bis zum Ersten Weltkrieg galt der freie Personenverkehr als selbstverständlich, wenn nicht gar notwendig für arme Länder wie die Schweiz. Er wurde kaum in Frage gestellt, im Gegensatz zu den Zöllen: Die an der Grenze erhobenen Abgaben auf Waren waren oft sehr hoch. Dies trug in den verarmten Grenzregionen zu etwas Zusatzeinkommen bei: Je höher die Schutzzölle, desto intensiver der Schmuggel.
(Aus-)Wandern – sich selbst herausschmuggeln
Da der Schengenraum ausschliesslich den Personenverkehr liberalisiert, berührt er den Warenverkehr nicht. An der Grenze zur Schweiz sind weiterhin Zölle zu entrichten. Doch während sich der Warenverkehr leicht mit Abgaben belegen lässt, ist das bei Dienstleistungen nicht möglich.
Dies trifft heute genauso zu wie früher: Heute bringen Gastarbeiter oder Hochqualifizierte beim Einwandern ihr Wissen mit. Früher führten es Söldner, Verdingkinder, Zuckerbäcker, Küchenmädchen aus. Sie schmuggelten quasi ihre Arbeit und ihre Dienste mit sich in die neue Heimat.
Existenznöte von anno dazumal nach-wandern
Jürg Frischknecht und Ursula Bauer lassen in ihrem Lesewanderbuch «Auswanderungen» die Existenznöte in den Bergtälern nochmals lebendig werden. Die Autoren wanderten die wichtigsten Wirtschaftsflüchtlings-, Schmuggel- und Handelsrouten der Bergtäler ins nahe Ausland nach.
«Selbst Kinder wanderten aus, so die «schwarzen Brüder», wie die kleinen Kaminfeger aus dem Tessin hiessen, oder die «Schwabenkinder» aus Graubünden», sagt Frischknecht.
Der freie Personenverkehr erleichterte auch den Geschäftemachern das Auswandern: «Zuckerbäcker aus dem Engadin führten in ganz Europa Patisserien und Cafés, Zürcher Seidenhändler eröffneten am Comersee Seidenspinnereien, und Bündner Schmalzhändler belieferten Bozen und Meran mit Butter und Käse», so Frischknecht.
Auf mehrtägigen (Aus-)Wander-Routen bis nach Mülhausen, Ravensburg, Mailand oder Chamonix lässt sich das heute nachvollziehen – mit dem Buch von Bauer/Frischknecht im Rucksack, mit Rast in teils denselben Gasthäusern, die damals schon existierten.
«Kaffee-Wandern» mit 27 Tonnen Gepäck pro Tag
Doch auch geschmuggelt wurde, und zwar bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, was heute nur wenige wissen. «In den 60er-Jahren wurden im grossen Stil Zigaretten und Kaffee nach Italien geschmuggelt», weiss Frischknecht.
Allein im unteren Puschlav gab es acht Kaffeeröstereien – denn erst die Röstung machte aus dem Kaffee ein Schweizer Produkt. Und dieses durfte straffrei ausgeführt werden – illegal war nur die Einfuhr in Italien.»
Im Spitzenjahr 1966 hätten Träger jeden Werktag durchschnittlich 27 Tonnen Kaffee ins Veltlin getragen – allein aus dem Puschlav. Dafür brauchte es gut und gerne 300 junge Männer, die täglich zwei- bis drei Mal über die Grenze «wanderten».
Das hörte erst auf, als in den 70er-Jahren Italien seine Gesetze den Gegebenheiten anpasste.
«Vorher, 1943 bis Kriegsende, schmuggelte man Riesenmengen an Reis in die Schweiz.» So mancher korrekte Schweizer wusste damals gar nicht, dass das Risotto in seinem Teller aus illegaler Ware bestand.
Frischknecht vermutet, dass viele Hotels in diesen Gebieten, in denen friedliche Wander-Touristen weiterhin übernachten, nur dank reinvestierten Schmuggel-Profiten gebaut wurden. Heute spricht man von «Weisswaschen von illegalen Geldern».
swissinfo, Alexander Künzle
«Auswanderungen. Wegleitung zum Verlassen der Schweiz»: Lesewanderbuch von Ursula Bauer und Jürg Frischknecht.
384 Seiten, mit vielen historischen Fotos und Bildern.
Rotpunktverlag, Zürich
ISBN 978-3-85869-372-3
Bevor die Schweiz und ihre Nachbarländer Nationalstaaten wurden, erübrigte sich ein «Schengenraum»: Der freie Personenverkehr war gewährleistet, nur Waren wurden verzollt.
Als 1848 die Schweiz und wenig später Italien als Nationalstaat gegründet wurden, gab es für Randgebiete wie Bergtäler eine tiefe wirtschaftliche Zäsur.
Was bisher als normaler Handel galt, wurde plötzlich zu illegalem Schmuggel.
Das traf diese Gebiete empfindlich. Sie verarmten, die Leute wanderten ab.
Wenn jetzt mit Schengen wieder ein freier Personenverkehr ermöglicht wird, dürfte dies den Randgebieten nicht mehr viel bringen.
Denn die Verkehrswege verlaufen heute anders – statt Säumerpfaden in Bergregionen gibt es heute NEAT und Autobahnen.
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