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Balkan: Engagement trotz Turbulenzen

Der mutmassliche Kriegsverbrecher und (damalige) Armeechef der bosnischen Serben, Ratko Mladic, spricht 1995 zu seinen Truppen. Keystone

Der Balkan steht vor einem entscheidenden Jahr: In den nächsten Monaten sollen die Weichen zu den grossen Fragen der Region gestellt werden.

Darüber diskutierten in Bern Balkan-Experten an einer Veranstaltung des Forums Ost-West.

«Über den Balkan zu sprechen – das ist nicht mehr einfach, auch in der Schweiz nicht.» So begann Tages-Anzeiger-Redaktor und Balkan-Experte Enver Robelli sein Referat an dem Seminar «Situation auf dem Balkan, Rolle der Schweiz» des Forums Ost-West.

Kürzlich konnte man in Schweizer Zeitungen lesen, dass die Schweizerische Volkspartei (SVP) «gegen die Balkanisierung der Volksschule» kämpfen will. Gleichzeitig wurde gefordert, Muslime nicht mehr einzubürgern, «obwohl zwei Drittel von ihnen, die in der Schweiz leben, aus dem Balkan stammen und einen europäischen Islam verkörpern, der sich für religiösen Fanatismus nicht einspannen lässt», so Robelli.

Ignorieren mit Folgen oder Friedensengagement

Die letzten 15 Jahre haben gezeigt, dass die Konflikte im Balkan, die sich nur etwa zwei Flugstunden von Brüssel und Bern entfernt abspielen, den gesamten europäischen Kontinent betreffen.

Ignorieren und die Folgen tragen oder Engagement zeigen und die Region befrieden – «das sind die Alternativen für die Europäische Union (EU), für die Schweiz und für die internationale Staatengemeinschaft», sagte Robelli.

Hauptproblem Kosovo

Sieben Jahre nach der NATO-Intervention gegen das Milosevic-Regime ist die Staatengemeinschaft zum Schluss gekommen, dass der Status quo im UNO-Protektorat Kosovo nicht mehr aufrechterhalten werden kann.

Die Verhandlungen zwischen Belgrad und Pristina haben begonnen. Beide Seiten zeigen sich unnachgiebig: Die Kosovo-Albaner fordern die Unabhängigkeit, Serbien will Kosovo behalten.

Dabei ignoriere die serbische Regierung die Realität, erklärte Robelli: «Die Integration einer zwei Millionen zählenden albanischen Minderheit wäre auch für eine Musterdemokratie eine kaum zu bewältigende Herausforderung.»

Andererseits traut die serbische Minderheit im Kosovo den albanischen Politikern nicht, wenn sie von einer multiethnischen und demokratischen Gesellschaft sprechen, insbesondere seit den Unruhen im März 2004 mit Pogromen gegen die serbische Bevölkerung.

Serbien vor der Wahl

Ein weiteres akutes Problem: Der Streit zwischen Serbien und Montenegro über die Zukunft der staatlichen Union. Am 21. Mai findet in Montenegro eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit der Zwergrepublik statt.

Die montenegrinische Gesellschaft ist tief gespalten in Befürworter und Gegner. Deshalb hat die EU durchgesetzt, dass die Abspaltung nur gültig ist, wenn mindestens 55% der Montenegriner dafür stimmen.

Der Druck aus dem Westen auf Serbien steigt indessen: Falls der mutmassliche Kriegsverbrecher Ratko Mladic bis zum 30. April nicht an das UNO-Tribunal in Den Haag ausgeliefert wird, droht die EU Belgrad mit einer Blockierung der Verhandlungen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungs-Abkommen.

Auch die Chefanklägerin des UNO-Tribunals in Den Haag, die Schweizerin Carla Del Ponte, fordert Serbien immer wieder auf, den ehemaligen Armeechef der bosnischen Serben festzunehmen. Andernfalls drohe dem Land die Isolation.

Schweizer Engagement

An der Berner Veranstaltung war klar: Die weitere Förderung der Demokratie in der Region muss, trotz Turbulenzen, vorangetrieben werden.

In der Schweiz leben rund 200’000 Kosovo-Albaner, was etwa 10% der Bevölkerung Kosovos entspricht. Proportional zur Landesgrösse leben in der Schweiz weitaus am meisten Exil-Kosovo-Albaner.

Ein Grund für die Schweiz, sich im Kosovo zu engagieren, sagt Hubert Eisele gegenüber swissinfo. Eisele ist bei der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) für die Zusammenarbeit mit Osteuropa und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) verantwortlich.

«Ein Kernziel ist die Erweiterung von Auswirkung und Einfluss unserer Aussenpolitik und unserer internationalen Zusammenarbeit, um Stabilisierung und Reformen im Westbalkan zu unterstützen.»

Ein zweites Ziel sei die Erhöhung und Optimierung der Beiträge zur Sicherheit in der Region sowie eine verstärkte Zusammenarbeit mit den dortigen Regierungen und Behörden, «um auch die Sicherheit in der Schweiz zu garantieren».

Fortschritte in Sicht

Ferner müsse die Schweiz das wirtschaftliche Potenzial der Region unterstützen und nutzen. Wichtig sei auch die Förderung der internationalen Zusammenarbeit im Migrations-Bereich sowie ein Ausbau von Massnahmen zur Vorbeugung von Migration und Förderung der Rückkehr.

Für Eisele sind heute in allen Ländern im Westbalkan, in denen sich die Schweiz engagiert, trotz vielen Problemen Fortschritte zu verzeichnen: «Es gibt sie auf politischer, wirtschaftlicher und sozialer Ebene und im Demokratisierungsprozess.»

swissinfo, Jean-Michel Berthoud

Seit 1990 hat das Schweizer Parlament mit verschiedenen Rahmenkrediten 3,45 Milliarden Franken für den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel in Osteuropa und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) bereitgestellt.

Ziel der Unterstützung ist der Aufbau von pluralistischen Demokratien und umweltverträglichen sozialen Marktwirtschaften. Die Basis für dieses Engagement bildet das vom Parlament revidierte Bundesgesetz Ost.

In Südosteuropa beschränkt sich die Unterstützung der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) auf die Schwerpunktländer Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Rumänien, Serbien und Montenegro sowie Mazedonien. Die Provinz Kosovo gehört zu den Spezialprogrammen.

Finanzieller Rahmen der DEZA für 2006:

Bosnien-Herzegowina: 8 Mio. Fr.

Serbien und Montenegro: 7 Mio. Fr.

Kosovo: 5 Mio. Fr.

Regionalprogramme: 7,6 Mio. Fr.

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