«Bergsteigen am Everest kann man nicht verbieten»
Der Mount Everest hat zum 50-jährigen Jubiläum der Erstbesteigung einen noch nie da gewesenen Andrang erlebt.
Hansruedi von Gunten und Thomas Zwahlen, die beide auf dem Dach der Welt standen, kommentieren im Gespräch mit swissinfo die Entwicklung.
«Die heutigen Bilder der Menschenschlangen am Gipfelgrat, das sieht für mich schrecklich aus», sagt Hansruedi von Gunten. Der 75-jährige rüstige ehemalige Berner Chemie-Professor ist froh, «gehörten wir zu den Ersten am Berg.»
Thomas Zwahlen, der 35-jährige Bergführer aus Thun, pflichtet seinem Vorgänger bei: «Dieser Stau am Hillary Step, gerade im Jubiläumsjahr, bereitete mir bei der Vorbereitung der Expedition die meisten Sorgen.»
Damals selbstverständlich, heute Glück
Zwahlen erlebte am vergangenen 26. Mai um 12.30 Uhr mit Glück, was für von Gunten 47 Jahre zuvor noch pure Selbstverständlichkeit war: Er und drei weitere Expeditions-Kollegen standen an dem Punkt, wo es «nicht mehr höher hinauf geht», und das allein! Ihr Vorteil sei gewesen, so Zwahlen, dass bereits viele Expeditionen zuvor aufgegeben hätten. Die verbleibenden Gruppen seien dann auf dem Südsattel «schön gestaffelt» gestartet und oben angekommen.
Zwei Generationen am swissinfo-Tisch
Von Gunten und Zwahlen sind Vertreter zweier Generationen von Everest-Bezwingern, wie sie verschiedener fast nicht am selben Tisch sitzen könnten. Und doch kommen sie in ihren Betrachtungen der heutigen Everest-Bergsteigerei zu ähnlichen Schlüssen.
Hier der Everest-Pionier, der vor 47 Jahren, am 24. Mai 1956, zusammen mit Dölf Reist als erst dritte Seilschaft überhaupt, am Gipfel des Everest stand, als dessen fünfte und sechste Bezwinger.
Vis-à-vis der junge Berner Oberländer, sozusagen noch mit der Everest-Sonne im Gesicht vom Gipfel zurück. Damit gehört Zwahlen zu den knapp 140 Glücklichen, die bisher im Jubiläumsjahr auf dem Dach der Welt standen. Mehrere hundert andere Everest-Anwärter dagegen scheiterten heuer, nicht wenige bezahlten das Vorhaben mit schweren Erfrierungen, einige sogar mit ihrem Leben.
Zwahlen will deswegen aber nicht vom vielzitierten Rummel am Everest sprechen. «Unter den vielen Leuten am Berg war kein Konkurrenzdenken vorhanden», sagt er. «Gerade angesichts der tagelang wütenden Höhenstürme haben alle Hand in Hand gearbeitet, das hat mir wahnsinnig gefallen.»
Viele Amateure am Berg
Trotzdem ist auch für den Profi klar, dass es am Berg der Berge viele Leute gebe, die dort «schlichtweg nichts zu suchen haben.»
Wenn es dann aber heisse, dass man mit genügend Geld den Gipfel kaufen könne, tue ihm dies sehr weh. Die von vielen Puristen kritisierte Sicherung praktisch der ganzen Aufstiegsroute mit Fixseilen bezeichnet Zwahlen zwar als «Begleiterscheinung des Kommerzes».
Gleichzeitig weist er darauf hin, dass das Volk der Sherpa in der Everest-Region genau davon profitiere. «Bergsteigen und Trekking sind deren einzige Einnahmequelle», so Thomas Zwahlen.
Recht auch für weniger extreme Bergsteiger
Die zunehmenden Massen von Bergsteigern und solchen, die sich dafür halten, riefen prominente Kritiker auf den Plan. Erstbesteiger Edmund Hillary etwa, der in der Everest-Region von den Sherpas wie ein Halbgott verehrt wird, möchte dem Berg mit einer Sperre eine mehrjährige Ruhepause gönnen.
Von Gunten ist da aber skeptisch. «Das Bergsteigen am Everest kann man nicht verbieten», so seine Meinung. Auch weniger extreme Bergsteiger hätten ein Anrecht, den Berg zu besteigen. Auch kommerzielle Expeditionen findet von Gunten in Ordnung, falls sie professionell geführt würden.
Am Eiger hats auch nicht funktioniert
Der Versuch, nach einer Reihe schwerer Unfälle früher einmal die Eigernordwand zu sperren, habe sich als undurchführbar erwiesen, begründet Gunten seine Zweifel. Und Zwahlen fügt an, dass man in solch einem Fall konsequenterweise auch das Matterhorn sperren müsse.
Was übrigens gerade der Fall war, wenn auch aus Sicherheitsgründen: Vom Hörnligrat, der Hauptaufstiegsroute, brach am 15. Juli ein Stück Fels ab, als Ursache wird das heisse Wetter vermutet.
Zudem wäre der Ansturm von Everest-Anwärtern nach der langersehnten Wieder-Freigabe möglicherweise derart gross, dass die Solu-Khumbu-Region dem gar nicht mehr gewachsen wäre, gibt von Gunten weiter zu bedenken.
Moral-Appell an die Veranstalter
Thomas Zwahlen ist dafür, dass der Andrang am Berg zurückgestuft werden sollte. Aber nicht mit Verboten oder einem Bann von zusätzlichem Sauerstoff. Er möchte vielmehr Expeditionsleiter und Bergführer in die Pflicht nehmen. Diese sollen sich der Frage stellen, ob sie den Everest überhaupt kommerziell anbieten können.
«Mit meiner Bergführer-Philosophie kann ich das nicht», so Zwahlen. Denn am Everest liesse sich seine Funktion als Bergführer gar nicht in dem Sinne ausüben, wie er es seinen Kunden im Hinblick auf einen Gipfelerfolg versprechen müsste.
Falls ein Bergführer oder ein Unternehmen Everest-Expeditionen im Programm hätten, sollte der Veranstalter die bergsteigerischen Fähigkeiten und die Erfahrungen der Kunden genauer prüfen müssen, so Zwahlen. Als Bedingung für den Everest könne beispielsweise die Besteigung eines anderen Achttausenders als Hürde eingebaut werden.
«Ich bewundere Thomas Zwahlen»
Von Gunten anerkennt im Gegensatz zu notorischen Puristen die Taten der heutigen Gipfelstürmer. «Ich bewundere Thomas Zwahlen, dass er den Everest-Gipfel erreicht hat», zollt der heute 75-Jährige dem um 40 Jahre jüngeren Kollegen seinen Respekt. «Das ist auch heute noch eine grossartige Leistung.» Trotz besserer Ausrüstung und fix eingerichteter Route durch den Khumbu-Eisabbruch.
Zwahlen gibt das Kompliment umgehend zurück und wertet vor allem die damalige Bezwingung des Khumbu-Icefalls durch von Gunten und seine Schweizer Kollegen als «Wahnsinnsleistung», weil sie die Route selber hätten legen und sichern müssen.
Unerfahrenheit lässt sich nicht kompensieren
Punkto Material lasse sich aber die damalige Leistung der Schweizer gar nicht mehr mit Heute vergleichen. «Das Zelt der 56er-Expedition auf dem South Col (7900m) würde ich jetzt nicht einmal mehr in Südfrankreich aufstellen», erklärt Zwahlen, froh um den Fortschritt. «Aber all das verbesserte Material kann Unerfahrenheit und Unfähigkeit der Bergsteiger am Mount Everest nicht kompensieren.» Diese Beobachtung findet Zwahlen «noch das Schöne am Berg.»
Wenn Zwahlen auch um keinen Preis im damaligen Zelt von Guntens auf dem Südsattel übernachten möchte, in einem anderen Punkt möchte er noch so gerne mit seinem Vorgänger tauschen: «Ich beneide Hansruedi, weil sie damals den ganzen Everest für sich allein hatten.» Und mit dem langen Anmarsch von Indien sei das Ganze noch ein richtiges Abenteuer gewesen.
«Heute dagegen ist der Mensch am Everest nur noch ein Glied in einer langen Kette und nicht mehr die Einzelperson von damals.» Und in Thomas Zwahlens Stimme klingt eine Portion Wehmut mit.
swissinfo, Renat Künzi
Seit 1953 haben über 1200 Menschen den Everest bestiegen, einige sogar mehrfach, vor allem Sherpas.
Bisher starben am Berg über 175 Personen, 56 davon Sherpas.
Appa Sherpa weist mit 13 erfolgreichen Aufstiegen die meisten Besteigungen auf.
30 Jahre nach Hillary hatten erst 143 Bergsteiger das Dach der Welt erreicht.
Ab Mitte der 80er Jahre setzte der Andrang kommerzieller Expeditionen ein.
Trotz der Tragödie von 1996, als 8 Menschen umkamen, hält der Everest-Boom bis heute unvermindert an.
Die Schweizer Bergsteiger waren 1956 sehr gut akklimatisiert.
Erstbesteiger Hillary fordert ein mehrjähriges Moratorium für den Everest.
Hansruedi von Gunten ist gegen ein solches Besteigungs-Verbot.
Thomas Zwahlen möchte die Zahl der Amateure am Berg senken.
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